Page - 201 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Wiederholt hat Handke gegen das Feuilleton der FAZ rebelliert, wÀhrend
Bernhard â der in der Bemerkung ĂŒber die âMechanismenâ des Literaturbe-
triebs Handkes Vorwurf an Reich-Ranicki als Literaturchef der FAZ sekundiertÂ
â
hier vorgibt, selbst positiven Rezensionen von meinungsbildenden Kritikern
inzwischen gelassen und abgeklĂ€rt gegenĂŒberzustehen. Wohl nicht von unge-
fÀhr handelt es sich dabei um jenes GesprÀch, in dem Bernhard seine langjÀh-
rige, 1984 verstorbene GefÀhrtin Hedwig Stavianicek als ideale Kritikerin sei-
ner Arbeit bezeichnet hat: âIch hatte nie einen besseren Kritiker als sie. Das ist
nicht vereinbar mit einer dummen, öffentlichen Kritik, die gar nicht eindringt.â
(TBW 22.2, 340) Wie in anderen spĂ€ten Texten des AutorsÂ
â besonders prĂ€gnant
in Alte Meister (1985) â wird hier die persönliche Erfahrung des Verlusts eines
geliebten Menschen thematisiert, eines Verlusts, der andere MaĂstĂ€be und Kon-
flikte in den Hintergrund treten lĂ€sst: âDie Dinge rĂŒhren einen gar nicht mehr
an danach. Es interessieren einen weder Erfolg noch MiĂerfolg, weder Theater
noch Regisseure, weder Redakteure noch Kritiker. Es interessiert einen wirklich
nichts mehr.â (TBW 22.2, 340)
âDer Name Thomas Bernhard fĂ€llt nicht, auch der von Reich-Ranicki nicht.â 281
Der Satz, den Siegfried Unseld im Sommer 1980, nach einem spannungsreichen
Treffen mit Peter Handke, in seinem Reisebericht notiert, verweist auf eine takti-
sche Finte des Autors: auf seine Weigerung, die beiden Kontrahenten, die er zudem
jeweils im Bunde mit seinem Verleger sah, beim Namen zu nennen. Es verwundert
angesichts des âwechselseitigen Dauer-BeobachtungsverhĂ€ltnis[ses]â 282 zwischen
Bernhard und Handke nicht, dass Unseld im gleichen Bericht von seiner Reise nach
Salzburg vice versa eine ganz Ă€hnlich geartete Paranoia des GegenĂŒbers festhĂ€lt:
âEifersĂŒchtig wachte er darĂŒber, wie ich meine Stunden in Salzburg ausfĂŒllte, der
Name Handke fiel nicht und durfte nicht fallen.â 283 Hatte Handke, wie erwĂ€hnt,
bei der Arbeit an der Lehre der Sainte-Victoire zunĂ€chst das KĂŒrzel âMRRâ an den
Rand seiner Notizen gesetzt, tilgte er den Namen in der Folge nicht nur in seinem
Arbeitsheft, sondern auch aus seinem Sprachgebrauch: Reich-Ranicki als der âHe-
Who-Must-Not-Be-Namedâ, der âYou-know-whoâ der Handkeâschen Antipathien.
âDiesen Namen werden Sie aus meinem Mund niemals hören. Sie können ihn
mir ruhig zehnmal sagen. Das geht zum einen Ohr hinein, zum anderen wieder
281 Unseld: Reisebericht Salzburg, 24. â 26.Â
Juli 1980. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm.Â
60),
S.Â
414. Vgl. bereits seine Notiz zu einem GesprĂ€ch mit Handke am 5.Â
April 1980, auch hier mit
Bezug auf Reich-Ranicki: âEs war ja klar, wer gemeint war, obschon er den Namen nicht aus-
sprechen kann.â (Ebd., S. 400)
282 Karl Wagner: âEr war sicher der Begabteste von uns allenâ. Bernhard, Handke und die öster-
reichische Literatur. Wien: Picus 2010, S. 32.
283 Unseld: Reisebericht Salzburg, 24. â 26. Juli 1980. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel
(Anm. 151), S. 598. Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 201
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471