Page - 207 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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des Autors Handke in den Jahren 1978/1979 angelehnt.308 Indem der Ich-ErzÀhler
im Folgenden die Rezeption der Langsamen Heimkehr, die seine âGenerations-
genossenâ von ihm abrĂŒcken habe lassen, rekonstruiert, wird ein weiteres Mal
die Kontroverse mit seinem journalistischen Erzkontrahenten aufgerufen:
Die Besprechungen waren so oder so. Nur einer der Kritiker, der schlaueste und
zugleich beschrĂ€nkteste, und der seine Begrenztheit fĂŒr Einfachheit ausgab, erschnĂŒf-
felte etwas und meinte, daĂ ein BedĂŒrfnis nach Heil, wie es einem der Helden auf
die Augenlider drĂŒckt, ein verunglĂŒcktes Bild sei, und fragte sich, ob auf die Knie zu
fallen, wie es im Verlauf der Begebenheiten einem geschah, eine geeignete Haltung
zum Denken sei.309
Offenkundig werden hier die von Reich-Ranicki gegen Langsame Heimkehr ins
Treffen gefĂŒhrten EinwĂ€nde paraphrasiert und in den ErzĂ€hltext eingespeist,310
um wenige Seiten spÀter sowohl die Hunde-Episode aus der Lehre der Sainte-
Victoire als auch den Konflikt zwischen Handke und Unseld erneut ins Spiel zu
bringen; wiederum bemĂŒht der Autor dabei den Vergleich Reich-Ranickis mit
einem Tier. Dieses Mal jedoch konnte, obgleich Namen und Zeitebenen im Zuge
einer sanften Fiktionalisierung verfremdet und verschoben sind, von Beginn an
kein Zweifel am âbiographischen SchlĂŒsselâ der SĂ€tze bestehen:311
308 Vgl. Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 60), S. 350 u. 352. Dazu die Dokumentation der
Textgenese der Langsamen Heimkehr bei Ines Barner: âNie wieder will ich Masken sehenâ. Zur
Entstehung von Peter Handkes ErzÀhlung Langsame Heimkehr (1979). In: Jahrbuch der Deut-
schen Schillergesellschaft 58 (2014), S. 355 â 385, bes. S. 357 â 362, die, im Gegensatz zu frĂŒheren
Darstellungen, besonders den âgroĂe[n] Gestaltungsspielraum lektoralen Mitwirkensâ (S.Â
380)
durch Elisabeth Borchers hervorhebt. Zur Bedeutung der Titel âVorzeitformenâ und âSchimĂ€-
rische[ ] Weltâ im ErzĂ€hlkontext der Niemandsbucht vgl. Gabriele Feulner: Mythos KĂŒnstler.
Konstruktionen und Destruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts. Ber-
lin: Erich Schmidt 2010, S. 282 f.; zu Borchersâ âPosition im VerlagsgefĂŒgeâ jetzt PaweĆ Zajas:
Verlagspraxis und Kulturpolitik. BeitrÀge zur Soziologie des Literatursystems. Paderborn: Fink
2019, S. 196 â 200.
309 Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht (Anm.Â
29), S.Â
405.Â
â Steiner: Literatur als Kritik der
Kritik (Anm. 29), S. 153, hat darauf hingewiesen, âdaĂ die Literaturkritik im fiktionalen Kon-
tinuum der Niemandsbucht eine nicht unwesentliche Rolle spieltâ. Dazu auch ebd., S.Â
156 â 158.
310 Vgl. Reich-Ranicki: Peter Handke und der liebe Gott (Anm. 129): âViele Kritiker versuchten,
ihm noch eine Weile treu zu bleiben und schrieben auch ĂŒber seine neuen Arbeiten meist
kniend, also in einer Position, die weder das Denken noch das Schreiben begĂŒnstigt.â â âIst
das BedĂŒrfnis nach Heil etwas Animalisches? Was soll das bedeuten, daĂ es auf die Augenlider
drĂŒckt? [âŠ] Von nun an lesen wir die ErzĂ€hlung in der Hoffnung, Antworten auf die Fragen
zu finden, die schon dieser weihevolle und offensichtlich verunglĂŒckte erste Satz aufwirft.â
311 Vgl. etwa Thomas Steinfeld: Das Krokodil in meinem Herzen. Ein Prophet des SeĂhaften:
Peter Handke verbringt ein Jahr in der Niemandsbucht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
12. 11. 1994: âSiegfried Unseld âvergiftetâ die Gegend, und Marcel Reich-Ranicki kommt vor, doch
SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 207
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471