Page - 210 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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an[schafft]â, hat der als âBuchseibeiunsâ apostrophierte Kritiker keinen Platz
und, vor allem, keine Handlungsmacht mehr.323
Wenig ĂŒberraschend entdeckte Handke, obwohl die Aufnahme im Feuil-
leton weitgehend positiv verlief, schon in den ersten Rezensionen der Nie-
mandsbucht viel âUnsinniges oder Widersinnigesâ.324 Bald nach Erscheinen des
Buches war zudem klar, dass Mein Jahr in der Niemandsbucht im Literarischen
Quartett diskutiert werden wĂŒrde. Danach befragt, was er dabei von Reich-
Ranicki erwarte, antwortete Handke am 7. Dezember 1994 im GesprÀch mit
Christoph Hirschmann: âIch hoffe, daĂ er endlich einmal schweigt. Schwei-
gen lernt.â 325 Bereits zwei Tage zuvor war im Spiegel ein Interview erschienen,
in dem Handke explizit darauf hingewiesen hatte, dass in der Niemandsbucht
ein âbekannte[r] Kritiker [âŠ] als Hund vorbeischnĂŒffeltâ.326 Im Literarischen
Quartett vom 15. Dezember gingen die drei Stammdiskutanten, die in dieser
Ausgabe von Norbert Miller unterstĂŒtzt wurden, ĂŒber die entsprechenden Pas-
sagen indes diskret hinwegging. Reich-Ranickis erstem Seitenhieb, das Buch
sei gerade deshalb misslungen, weil es einen âtypische[n] Handkeâ vorstelle,327
folgten zahlreiche weitere. Obgleich sich Miller in der Auseinandersetzung mit
Karasek und Reich-Ranicki um Diffe renzierungen bemĂŒht zeigte, kam Letzte-
rer erneut zu einem apodiktischen, Handkes âMĂ€rchenâ schroff ablehnenden
Urteil: Es handle sich zweifelsfrei um âmiserable Literaturâ; die âdeutsche Kri-
tikâ habe sich jedoch unverstĂ€ndlicherweise âbegeistertâ dazu geĂ€uĂert, ja sie
zeichne sich â auch das ein Vorwurf, den Reich-Ranicki bereits anlĂ€sslich von
Langsame Heimkehr erhoben hatte â durch ein nachgerade âreligiöses VerhĂ€lt-
nis zum Gegenstandâ aus.328 AuĂerdem sei Thomas Bernhard, wie der Kritiker
323 Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht (Anm. 29), S. 930.
324 Handke an Unseld, 13. 11. 1994. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 60), S. 645.
325 Christoph Hirschmann: Stiller StreĂ. Handke exklusiv ĂŒber den Erfolg seines neuen Buches.
In: News, Nr. 49, 7. 12. 1994, S. 130 â 132, hier S. 131.
326 Volker Hage/Mathias Schreiber: âGelassen wĂ€râ ich gernâ. Der Schriftsteller Peter Handke ĂŒber
sein neues Werk, ĂŒber Sprache, Politik und Erotik. In: Der Spiegel, Nr.Â
49, 5. 12. 1994, S.Â
170 â 176,
hier S. 176.
327 Marcel Reich-Ranicki: Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht im Literarischen Quar-
tett [ZDF], Sendung Nr. 34, 15. 12. 1994. In: https://www.youtube.com/watch?v=pUkRi-EysoA
(Stand 14. 10. 2020), 32:54 â 32:56, 33:58 â 34:02 u.Â
38:55 â 38:56; vgl. Das Literarische Quartett. Bd.Â
2
(Anm. 249), S. 250.
328 Reich-Ranicki: Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht (Anm.Â
327), 38:55 â 39:00 u.Â
39:36 â 39:38;
vgl. Das Literarische Quartett. Bd.Â
2 (Anm.Â
249), S.Â
253.Â
â Dazu Steiner: Literatur als Kritik der
Kritik (Anm. 29), S. 130, der mit Blick auf die Rezeption von Mein Jahr in der Niemandsbucht
festhĂ€lt: âFast jede Rezension, positiv wie negativ, geht nicht einfach nur auf das Werk, son-
dern auf die kritische Debatte ein. Verfechter Handkes rĂŒgen die Nörgler, insbesondere aber
nehmen die Kritiker diejenigen aufs Korn, die sie fĂŒr glĂ€ubige Adepten halten. Der literarisch
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki210
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471