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Mathias Schreiber haben Reich-Ranicki eine veritable DĂŒnnhĂ€utigkeit und
SensibilitĂ€t fĂŒr die Urteile anderer ĂŒber seine Person attestiert: âKaum etwas
registriert er so genau wie das, was ĂŒber ihn gedacht, geschrieben, gesprochen
wird. [âŠ] Er ist empfindlich und hat fĂŒr KrĂ€nkungen ein gutes GedĂ€chtnis.
Wie so mancher, der gut austeilen kann, zÀhlt er zu den Empfindsamen und
LiebesbedĂŒrftigen.â 359 Ăhnliches trifft auch auf den Autor Peter Handke zu.360
WÀhrend die beiden im Laufe der Jahre ihre argumentativen Waffen schÀrften
und weder vor Reprisen bereits hinlĂ€nglich artikulierter VorwĂŒrfe noch vor
pointierten Untergriffen und Seitenhieben zurĂŒckschreckten, offenbarten sie
unwillkĂŒrlich auch die eigene Verletzlichkeit â und, mit Hage und Schreiber
gesprochen, ein gutes GedĂ€chtnis, was frĂŒhere Attacken und KrĂ€nkungen
betrifft: âNicht zu ĂŒbersehen sind in der Beziehung zwischen Kritiker und
Autor schlieĂlich jene Emotionen, die zu typischen Merkmalen narzisstischer
Syndrome gehören: Unter- oder ĂberlegenheitsgefĂŒhle, schwere KrĂ€nkungen
mit den damit verbundenen Aggressionen.â 361
Die wechselseitige Kritik entzĂŒndete sich wiederholt an der PopularitĂ€t des
GegenĂŒbers; beide, Handke wie Reich-Ranicki, waren der Ăberzeugung, der
Ruhm und die Prominenz des anderen beruhe auf einem MissverstÀndnis, sei
nicht der QualitÀt ihrer literarischen bzw. literaturkritischen Arbeiten geschuldet,
sondern einer â von weiten Teilen des Literaturbetriebs nicht durchschauten â
Inszenierung, einer geschickten Selbstvermarktung. WĂ€hrend Handke Reich-
Ranicki zum Vorwurf machte, er bediene mit dem Habitus des âVerreiĂersâ und
âBuch-Vornehmersâ vor allem die Erwartungen eines schaulustigen Publikums,362
konstatierte der Kritiker ein ums andere Mal, Handkes Erfolg sei zunÀchst durch
359 Hage/Schreiber: Marcel Reich-Ranicki (Anm.Â
57), S.Â
132. Vgl. dazu auch den auf Reich- Ranicki
gemĂŒnzten Kommentar von Baumgart: Damals (Anm.Â
9), S.Â
197: âdenn Kritik kann dieser groĂe
Kritiker noch weniger ertragen als seine Opferâ.
360 Durzak: Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur (Anm. 156), S. 171, hat Handke
vorgeworfen, die Rezensionen âeinzelne[r] Literaturkritiker, die ihn hier und da unfreund-
lich in ihren BlĂ€ttern behandelt hattenâ, stets als âAttacken auf ihn als Personâ interpretiert
zu haben, âauch wenn das in der RealitĂ€t nie so intendiert gewesen warâ. Vgl. ebd., S. 13: âEin
VerriĂ ist [âŠ] fĂŒr ihn immer gleich auch ein persönlicher Angriff, ein Lobpreis ist fĂŒr ihn
nicht irgendein abstraktes Lob ĂŒber eine literarische Arbeit, sondern zugleich eine moralische
Kommunikationsgeste.â
361 Anz: Werten und FĂŒhlen (Anm. 7), S. 23.
362 Reich-Ranicki kann wohl als Paradebeispiel jenes Kritikers gelten, den Pierre Bourdieu fol-
gendermaĂen beschrieben hat: âSelbst den fĂŒr ihre KonformitĂ€t mit den Erwartungen ihres
Publikums berĂŒchtigten Kritikern ist durchaus zu glauben, wenn sie versichern, sich nie die
Ansichten ihrer Leser zu eigen zu machen; und es darf auch davon ausgegangen werden, daĂ
die Ursache fĂŒr die EffektivitĂ€t ihrer Kritiken keineswegs in einer demagogischen Anpassung an
den Geschmack des Publikums besteht, sondern in einer objektiven Ăbereinkunft; sie ermĂ€ch-
tigt zu vollkommener Aufrichtigkeit, die notwendig â und damit wirksam â ist, damit einem
Unversöhnt: letzte Gefechte 217
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471