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noch vor Erscheinen von Theorie der Prosa, als Leitlinie des Blicks auf avancierte
Textverfahren hervorgehoben. Liest man Handkes ĂŒberaus wertschĂ€tzende Cha-
rakterisierung von Eichenbaums und Ć klovskijs theoretischen Arbeiten, so wird
rasch deutlich, warum der junge Autor sich fĂŒr die Methoden der Formalisten
begeistern konnte: âDies ist eins [sic] der wichtigsten Erkenntnisse des Forma-
lismus: daĂ sprachliche Elemente Eigenwert haben.â 17
In seiner Wellershoff-Rezension moniert Handke, dass in den Texten des
Bandes aufgrund ihrer erzĂ€hlerischen KonventionalitĂ€t âauf nichts [âŠ] auf-
merksam gemachtâ werde.18 Dieser Vorwurf korrespondiert mit der program-
matischen Forderung in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, eine neue
âMethodeâ des Schreibens eröffne zuallererst die Möglichkeit, âaufmerksam zu
machen und aufmerksam zu werdenâ, besitze also das Vermögen, sowohl die
Wahrnehmung der Leserinnen und Leser als auch jene des Autors selbst zu schÀr-
fen und zu schulen.19 Beide Formen des Schreibens ĂŒber Literatur, die literatur-
kritische Kommentierung fremder Texte wie die poetologische Selbstreflexion,
beziehen bei Handke wichtige Impulse aus den Forschungen der Formalisten,
die in den 1910er und 1920er Jahren die Àsthetische Revolution der russischen
Avantgarde theoretisch flankiert hatten. 1969 erklÀrte Handke deren AnsÀtze,
die fĂŒr ihn eine entscheidende Orientierungsmarke darstellten, zur âwichtigs-
te[n], methodisch-literarische[n] Schule, die am Anfang des 20. Jahrhunderts
ĂŒberhaupt entstanden istâ.20
Handkes Kritik am Wochenende-Band, wonach keiner der Autoren âdie
Methode als Widerstandâ einsetze, âals sei das GeschichtenerzĂ€hlen die gege-
bene, natĂŒrliche Art der Vermittlung von Wirklichkeitâ,21 findet ihre literatur-
theoretische Entsprechung in Ć klovskijs berĂŒhmtem, zunĂ€chst 1916 im russischen
Original veröffentlichtem Aufsatz Kunst als Kunstgriff (spÀter auch, mit anderem
Akzent, als Die Kunst als Verfahren ĂŒbersetzt 22). Ć klovskijs Ăberzeugung, das
âZiel der Kunstâ mĂŒsse die FĂ€higkeit sein, âuns ein Empfinden fĂŒr das Ding zu
Paratextuelle Politik und Praxis. Interdependenzen von Werk und Autorschaft. Hg. v. Martin
GerstenbrĂ€un-Krug u. Nadja Reinhard. Wien: Böhlau 2018, S.Â
271 â 292, bes. S.Â
276 â 279 u.Â
285 f.
17 Peter Handke: âBĂŒchereckeâ vom 11. 10. 1965. In: P. H.: Tage und Werke (Anm. 3), S. 240 â 248,
hier S. 244.
18 Handke: Bei Abschied Regen (Anm. 6), S. 112.
19 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (Anm. 9), S. 26; vgl. Lorenz: Pro domo
(Anm. 7), S. 408 f.
20 Peter Handke im GesprÀch mit Friedrich Luft. [1969] In: https://www.youtube.com/watch?v=
fMPW00m_gZc (Stand 14. 10. 2020), 11:42 â 11:49.
21 Handke: Bei Abschied Regen (Anm. 6), S. 112.
22 Vgl. Viktor Ć klovskij: Die Kunst als Verfahren. [1916] In: Russischer Formalismus. Texte zur
allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. v. Jurij Striedter. MĂŒnchen: Fink
41988, S. 3 â 35.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik224
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471