Page - 229 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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abschwächte und schließlich in deutliche, auch deutlich artikulierte Abneigung
überging, anschaulich dokumentiert.
Im Dezember 1973 hat Peter Handke die Veränderung seines Schreibens über
Literatur am Beispiel von Hermann Lenz als Entdeckung der Lektüre als Erleb-
nis beschrieben. „Ohne geübt zu sein“, habe er, so Handke im Abstand von gut
acht Jahren, 1965 für das Radio „eine halbwegs geübte Kritik“ zu Lenz’ Roman
Die Augen eines Dieners geschrieben, „in der, als ich sie vor kurzem wiederlas,
nichts von dem vorkam, was ich damals mit dem Buch erlebt hatte; statt dessen
ein Vergleich mit Knut Hamsun, der Zuschlag zu einer vertrauten Literaturart
und damit der Zuschlag zur Literatur als etwas Vertrautem.“ 43 Die souveräne
Ordnungsgeste des jungen Rezensenten, der den neu erschienenen Roman mit
exemplarischen Texten des Genres verglichen hatte, erscheint dem mittlerweile
31-jährigen Handke im Rückblick verdächtig. Zwar werden bereits in der Bespre-
chung vom Januar 1965 die Reaktionen eines „Lesenden“ beschrieben, den der
Roman „aufschreckt“ und „vor den Kopf stößt“;44 nichtsdestoweniger habe er,
so Handke mit Blick auf seinen frühen Text, seinerzeit die Schilderung der Lek-
türe als Leseerlebnis vernachlässigt.45 „Und trotzdem vergaß ich Hermann Lenz
nicht; durch die Jahre erinnerte ich mich immer wieder an das Buch, weniger an
die Geschichte und die Einzelheiten darin als an meinen Zustand, während ich
es damals gelesen hatte“.46 Handke war, wie er 1997 in einer Laudatio auf Lenz
gestand, zunächst davon ausgegangen, es handle sich bei dem Autor von Die
Augen eines Dieners um einen Österreicher:
Vor über dreißig Jahren habe ich zum ersten Mal, lieber Hermann, ein Buch von
Dir gelesen, das waren Die Augen eines Dieners. […] [I]ch wußte damals nicht, wer
dieser Hermann Lenz ist. Die Augen eines Dieners ist ein Roman, der in Österreich
spielt, in einer vergangenen Epoche, und ich hielt den Autor
– es wurde im Klappen-
text nicht gesagt wer der Autor war –, als ich seinerzeit, vielleicht 1963, das Buch als
43 Peter Handke: Jemand anderer: Hermann Lenz. [1973] In: P. H.: Als das Wünschen noch gehol-
fen hat. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 81 – 100, hier S. 81. Der erwähnte Rundfunkessay
findet sich in Auszügen in Peter Handke: „Bücherecke“ vom 18. 1. 1965. In: P. H.: Tage und Werke
(Anm. 3), S. 198 – 203, hier S. 201 f., jedoch fehlt im „Rundfunkmanuskript […] eine Seite, auf
der P. H. sich mit Hermann Lenz’ Roman Die Augen eines Dieners beschäftigte und die man
P. H. zusandte, als er 1973 eine Gesamtwürdigung von Hermann Lenz schrieb. Diese Seite hat
sich nicht erhalten.“ (Kommentar ebd., S. 201, Anm. *)
44 Handke: „Bücherecke“ vom 18. 1. 1965 (Anm. 43), S. 201.
45 Vgl. Mixner: Peter Handke (Anm. 10), S. 207: „Gerade das rückt Handke nun in den Vorder-
grund: was er mit den Büchern von Hermann Lenz erlebt hat […]. Der Erkenntniswert der
Bücher von Hermann Lenz zeigt sich in den Erfahrungen, von denen Handke erzählt, daß er
sie beim Lesen gemacht hat.“
46 Handke: Jemand anderer: Hermann Lenz (Anm. 43), S. 81.
Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 229
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471