Page - 231 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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sich für die „Ausgrabung und Neubewertung“ vordem „zweitrangiger Künstler“
einsetzen,50 wobei hier nicht der Ältere für den Jüngeren, sondern der gefeierte
Aufsteiger Handke für den lange verkannten poète maudit, gewissermaßen der
Sohn für die „literarische[ ] Vaterfigur“ 51 Lenz eintritt: eine Talentförderung
unter umgekehrten Vorzeichen, wie sie etwa auch in Handkes Bemühungen um
Franz Nabl zu beobachten ist.52
Bezeichnenderweise setzt auch der Briefwechsel der beiden am 21.
Dezember
1972 mit der Beschreibung einer Leseszene ein, in der sich der Gestus von Handkes
Rezension bereits andeutet:
Lieber Herr Lenz,
heute bin ich früher aufgewacht und habe dann Ihr Buch „Der Kutscher und der Wap-
penmaler“ zu Ende gelesen. Es war vor dem Fenster ein ganz warmes, fast menschliches
Licht, wie es vor allem auf den letzten Seiten Ihres Buches so genau und ergreifend
beschrieben ist. Ich war von der Geschichte richtig gerührt, und hoffe, das so sagen
zu dürfen.
[…] Ihr letztes Buch habe ich Satz für Satz gelesen, weil ich auf jede Einzel-
heit neugierig war. Einmal dachte ich: „Da kann man sich wirklich auf die Einzel-
heiten ganz und gar verlassen“ – und das ist sicher ein Zeichen, daß da wirklich ein
Schriftsteller arbeitet, und kein bloßer Behaupter. Ich las in dem Buch einen Monat
lang, und es hat mir sehr geholfen. Ich halte Sie für einen der wenigen Schriftstel-
ler, bei denen man sich lesend zwar fremd, aber doch ganz zu Hause fühlen kann.53
Die Verbindung der literarischen Struktur des Buches mit der konkreten Lektüre-
situation des lesenden Autors Handke, die Anregung zur langsamen, genauen
Lektüre ‚Satz für Satz‘, schließlich das Moment der Selbsterkenntnis des Lesers,
dem sich das Buch als ‚Hilfestellung‘ für sein eigenes Leben erweist, und die
daraus gewonnene Überzeugung, hier sei nicht ein „Behaupter“, ein auf den
Effekt bedachter Poseur am Werk, sondern „wirklich ein Schriftsteller“
– Handke
benennt damit in seinem ersten Brief an Lenz im Dezember 1972 Aspekte einer
emphatischen Lektürepraxis, die für sein literaturkritisches Schreiben von zen-
traler Bedeutung waren und seither geblieben sind.
Bald nach Beginn der Korrespondenz mit Lenz stellt Handke diesem in Aus-
sicht, „was über Ihre Arbeit zu schreiben“, er habe allerdings „seit 3
Jahren nichts
Aufsatzähnliches geschrieben, deswegen macht es mir Schwierigkeiten. Aber da es
50 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1999, S. 364.
51 Pichler: Die Beschreibung des Glücks (Anm. 3), S. 111.
52 Vgl. exemplarisch Peter Handke: Österreich und die Schriftsteller. In: Literatur im Residenz
Verlag. Almanach auf das Jahr 1974. Salzburg: Residenz 1974, S. 57 – 61, hier S. 60 f.
53 Handke an Lenz, 21. 12. 1972. In: Handke/Lenz: Berichterstatter des Tages (Anm. 35), S. 9.
Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 231
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471