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ein Bedürfnis ist in Ihrem Fall, wird dem nicht auszuweichen sein.“ 54 Tatsächlich
hatte Handke nach zahlreichen Rezensionen in den Jahren 1967 bis 1969 seine
Tätigkeit als Kritiker Anfang der 1970er Jahre weitgehend eingestellt; nur eine
Theaterkritik zu Wolfgang Bauers Magic Afternoon bildete davon eine Ausnah-
me,55 während die 1972 in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms versammelten
Buch- und Filmbesprechungen allesamt bereits in den 1960er Jahren erschienen
waren. Seine Arbeit über Hermann Lenz stellte einen Neuansatz als Kritiker dar,
der ihm neben den eigenen literarischen Arbeiten offenbar nicht leicht von der
Hand ging: „Nun bin ich noch immer nicht soweit mit der Geschichte über H. L.,
will aber unbedingt Ende September fertig sein“,56 schreibt er dem Autor des zu
rezensierenden Buches im August 1973, kann aber erst am 23. November „froh
und erleichtert“ davon berichten, „[m]einen Aufsatz über H. L.
[…] seit vorges-
tern abend fertig“ zu haben.57 Die Schreibhaltung als Rezensent, die Handke mit
seinem Lektürebericht über Hermann Lenz anvisiert, ist in der abweichenden
Bezeichnung der Textsorte in den beiden zitierten Briefen prägnant skizziert:
Sie nimmt eine Zwischenstellung zwischen einer „Geschichte über H. L.“ und
einem „Aufsatz über H. L.“ ein. „Es wäre schön, wenn man möglichst viele die-
ser Texte als Geschichten lesen könnte“,58 hatte Handke schon 1972 in den ein-
leitenden Bemerkungen zum Band Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, der
u. a. seine Arbeiten über Thomas Bernhard und Gert Jonke enthielt, die von ihm
präferierte Rezeption dieser Texte umrissen.
In der schließlich am 22. Dezember 1973 in der Süddeutschen Zeitung publi-
zierten „Einladung, Hermann Lenz zu lesen“ 59 erinnert Handke sich zunächst an
den „Zustand einer wachsenden Ungestörtheit“, in dem er einst Die Augen eines
Dieners gelesen habe – ein Zustand, der „aber nicht von außen kam, sondern
von dem Buch erst erzeugt wurde“.60 Mit Blick auf seine Rundfunkrezension von
1965 skizziert Handke eine alternative Form der Literaturbeschreibung, die von
der Idee einer analytischen Sezierung des Textes Abstand nimmt. Er rückt den
Lektüreakt in den Mittelpunkt der Beschreibung, um am Beispiel des aktuellen
54 Handke an Lenz, 15. 2. 1973. In: ebd., S. 13.
55 Vgl. Peter Handke: Schwankende Nerven. Über Wolfgang Bauers dramatischen Erstling Magic
Afternoon. Zur Nürnberger Inszenierung dieses Bühnenstücks über die Verhaltensweise der
Jugend. In: Nürnberger Nachrichten, 24. 4. 1970.
56 Handke an Lenz, 27. 8. 1973. In: Handke/Lenz: Berichterstatter des Tages (Anm. 35), S. 25.
57 Handke an Lenz, 23. 11. 1973. In: ebd., S. 31.
58 Handke: Vorbemerkung (Anm.
39), S.
8. Handke habe damit, so Höller: Peter Handke (Anm.
42),
S. 62, „das Übergängige von Theorie und Literatur“ betonen wollen.
59 So der Untertitel des Essays über Hermann Lenz in der Süddeutschen Zeitung vom 22. 12. 1973,
der (ebenso wie der Haupttitel Tage wie ausgeblasene Eier) für die Buchfassung in Als das
Wünschen noch geholfen hat (1974) geändert wurde.
60 Handke: Jemand anderer: Hermann Lenz (Anm. 43), S. 81.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik232
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471