Page - 235 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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als gefahrvolle, sich der Planung entziehende âEin-Mann-Expeditionâ,69 als âeine
Expedition [âŠ], wie man sie sich abenteuerlicher nicht wĂŒnschen kannâ,70 cha-
rakterisiert hat, versteht Handke auch das Lesen und die Dokumentation die-
ser LektĂŒre als TĂ€tigkeit, die die eigenen Sicherheiten infrage stellt, um nicht in
unproduktive Routinen zu verfallen â gerade Letzteres ist ein wiederkehrender
Vorwurf des âGelegenheitskritikersâ Handke an die professionellen Rezensenten
in den Redaktionen der Tages- und Wochenzeitungen. Sein Interesse richtet sich,
so Manfred Mixner, auf einen âErkenntniswertâ, âder durch die Dimension der
Erfahrbarkeit jeder ĂŒber ein begriffliches Regelsystem gewonnenen Erkennt-
nis [âŠ] ĂŒberlegen istâ.71
Dabei will auch der Rezensent Handke nicht von der Vorstellung abrĂŒcken, ein
Buch so zu lesen, âals könnte es mirâ, wie er im 1977 erschienenen Journalband
Das Gewicht der Welt ĂŒber Wolf Solent von John Cowper Powys notiert, âfĂŒrs
weitere Leben etwas bringenâ.72 Diesen emphatischen, ausdrĂŒcklich nicht-ana-
lytischen Begriff von literarischer LektĂŒre hat der Autor in immer neuen AnlĂ€u-
fen festgehalten, skizziert, in kleinen Miniaturen erzĂ€hlerisch entworfenÂ
â nicht
zuletzt als Gegenpol zu den âBestenlistenâ und wertenden Gesten der Literatur-
kritik: âDie besten sind jene BĂŒcherâ, schreibt er in Die Geschichte des Bleistifts
(1982), âdie einen immer wieder dazu bringen, innezuhalten, aufzuschauen, in
die Gegend zu schauen, tief einzuatmen, sich von der Sonne bescheinen zu las-
senÂ
â auch wenn diese gar nicht scheintâ.73 In vielen FĂ€llen steht dabei, wie Roland
Borgards treffend formuliert, die Frage im Zentrum, wie es möglich ist, âaus der
Erfahrung mit dem Text zu einer neuen Wahrnehmung der Welt [zu] gelangenâ.74
69 Peter Handke: Drei Zitterer an der homerischen Quelle. [2015] In: P. H.: Tage und Werke
(Anm. 3), S. 165 â 186, hier S. 185.
70 Peter Handke: Prosa als Hintergrund(aus)leuchten. [2004] In: P. H.: Meine Ortstafeln. Meine
Zeittafeln. 1967 â 2007. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S.Â
334 â 340, hier S.Â
336; so auch in Peter
Handke: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987Â
â Juli 1990. Salzburg, Wien: Jung
und Jung 2005, S. 86: âDas Schreiben hat ein Abenteuer zu sein, oder es ist nicht â und es ist
mir doch noch fast jedesmal gelungen, mich in solch ein Abenteuer zu verwickeln? verwickeln
zu lassen?âÂ
â Eine Ă€hnliche Konzeption des Schreibens findet sich, um nur ein Beispiel zu nen-
nen, auch bei Max Frisch: âSchreiben ist ein abenteuerliches Unternehmen, man setzt sich sei-
ner Erfahrung ausâ â âIch will also, wenn ich ein StĂŒck schreibe und es zur AuffĂŒhrung gebe,
etwas auskundschaftenâ (Max Frisch/Dieter E. Zimmer: Noch einmal anfangen können. [1967]
In: M. F.: âWie Sie mir auf den Leib rĂŒcken!â Interviews und GesprĂ€che. AusgewĂ€hlt u. hg. v.
Thomas StrĂ€ssle. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 67 â 78, hier S. 69 u. 72).
71 Mixner: Peter Handke (Anm. 10), S. 162.
72 Peter Handke: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975Â â MĂ€rz 1977). Salzburg:
Residenz 1977, S. 62.
73 Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts. Salzburg, Wien: Residenz 1982, S. 65.
74 Roland Borgards: Sprache als Bild. Handkes Poetologie und das 18. Jahrhundert. MĂŒnchen:
Fink 2003, S. 32. Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 235
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471