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Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises im Jahr 1979 an: der Weg von der
Wahrnehmung Kafkas als dem âMaĂgebende[n]â der eigenen Poetik zur Einsicht,
dass âsich meine Schreib-Versuche von dem Werk Franz Kafkas unterscheiden
mĂŒssenâ 211 â ein Weg, der spĂ€ter auch in Attacken gegen den âEwigen Sohnâ 212
und âHeiratsschwindler Kafkaâ 213 mĂŒnden sollte. Aufschlussreich fĂŒr den vor-
liegenden Zusammenhang ist indes der Umstand, dass Handkes poetologische
Reflexionen im Kafka-Essay von 1974 erneut von einer LektĂŒreszene ihren Aus-
gang nehmen. Weitere AufsĂ€tze (ĂŒber Thomas Mann und Heimito von Doderer)
fĂŒr das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung waren Mitte der 1970er
Jahre zwar in Planung, kamen aufgrund des endgĂŒltigen ZerwĂŒrfnisses zwischen
Peter Handke und Marcel Reich-Ranicki aber nicht mehr zustande und wurden
auch nicht an anderer Stelle gedruckt.214
Handkes 1975 im Spiegel veröffentlichter Verriss von Karin Strucks Roman
Die Mutter gehört ebenso in den skizzierten Zusammenhang einer am LektĂŒre-
erlebnis orientierten Rezensionspraxis, obgleich er von den wertschÀtzenden
dann immer wiederentdeckt. Und wie zaghaft, wie Ă€ngstlich erscheint mir diese Scham heuteÂ
â
wie hochmĂŒtig.â Gabriel: Peter Handke und Ăsterreich (Anm. 93), S. 134, hat auf âeine FĂŒlle
von Ă€uĂerlichen Merkmalenâ hingewiesen, die in Handkes 1975 bis 1977 entstandenem Journal-
band Das Gewicht der Welt âmit dem Tagebuch Kafkas ĂŒbereinstimmenâ. TatsĂ€chlich finden
sich in diesem Band (unter dem Datum 29. 3. 1976) mehrere Notate, die eine Kafka-LektĂŒre
belegen und die zugleich poetologische Reflexionen anstellen: âBeim Lesen von Kafkas Tage-
buch: ich merke, daĂ mich seine Klagen und Selbstbezichtigungen nicht mehr interessieren,
nur noch seine Beschreibungenâ; âKafka lesen: man muĂ sich seine SĂ€tze nicht merken (man
kann seine SÀtze sofort vergessen, das ist das Schöne an ihnen), und sie bleiben doch da, auch
wenn man sie vergiĂtâ; ââEin Jahr mĂŒĂte ich suchen, bis ich ein wahres GefĂŒhl in mir fĂ€ndeâ
(K.)â (Handke: Das Gewicht der Welt [Anm.Â
72], S.Â
89 f.). In den spÀteren JournalbÀnden Die
Geschichte des Bleistifts, Phantasien der Wiederholung, Am Felsfenster morgens und Gestern
unterwegs, ja noch in Vor der Baumschattenwand nachts wird die Auseinandersetzung mit
Kafka weitergefĂŒhrt. Zur Bedeutung von Kafkas TagebĂŒchern fĂŒr Handkes Das Gewicht der
Welt siehe die Darstellung in Karlheinz Fingerhut: Drei erwachsene Söhne Kafkas. Zur pro-
duktiven Kafka-Rezeption bei Martin Walser, Peter Weiss und Peter Handke. In: Wirkendes
Wort 30 (1980), H. 6, S. 384 â 403, bes. S. 394 â 399.
211 Peter Handke: Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises. [1979] In: P. H.: Das Ende des Fla-
nierens (Anm.Â
48), S.Â
156 â 159, hier S.Â
156 f. Zur Bedeutung Kafkas fĂŒr Handkes SelbstverstĂ€nd-
nis als Autor vgl. bereits Gabriel: Peter Handke und Ăsterreich (Anm. 93), S. 142 â 148; spĂ€ter
Pilipp: In Defense of Kafka (Anm.Â
93), bes. S.Â
117 â 122 u.Â
143 â 145; ders.: Peter Handkeâs coming
to terms with Kafka: Die Stunde der wahren Empfindung. In: Modern Austrian Prose. Inter-
pretations and Insights. Hg. v. Paul F. Dvorak. Bd.Â
1. Riverside: Ariadne Press 2001, S.Â
107 â 128;
zuletzt die erhellende Studie von Hans Höller: Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das
Werk Peter Handkes. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 91 â 100.
212 Peter Handke: Phantasien der Wiederholung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 94.
213 Handke: Gestern unterwegs (Anm. 70), S. 288.
214 Vgl. Kap. IV, Abschnitt âSchleichende Eskalation: die 1970er Jahreâ.
Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 263
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471