Page - 296 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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portrÀtiert, dem wie Freumbichler die verdiente WertschÀtzung zeitlebens ver-
wehrt geblieben sei (TBW 22.1, 16),82 wandte er sich â nach BeitrĂ€gen zu wissen-
schaftlichen, sozialen und kulturellen Themen 83Â â erst Ende November 1952
wieder einzelnen Schriftstellern zu. Als Redakteur der sozialistischen Tages-
zeitung besuchte er u. a. Veranstaltungen und Lesungen, die von der Salzburger
Volkshochschule, vom KĂŒnstlerbund âDie Silberroseâ, im von Walter Seidlhofer
gegrĂŒndeten âSalzburger Lesestudioâ oder im âAmerika-Hausâ angeboten wur-
den.84 Seine Kurzberichte zeichnen sich gerade anfangs durch eine weitgehend
undifferenziert-naive Affirmation traditioneller literarischer Ausdrucksformen
aus; sie sind, wie Christian Klug gezeigt hat, âarm an Kriterienâ, wodurch kaum
ein âHintergrund einer theoretisch reflektierten Ăsthetik oder Poetik erkennbar
wirdâ.85 Vergleicht man sie mit Handkes frĂŒhen Buchrezensionen und Kulturbei-
trĂ€gen, die er in den Jahren 1964 bis 1966 fĂŒr das steiermĂ€rkische Regionalradio
verfasst hat,86 dann wird deutlich, dass die Texte des etwa gleichaltrigen Bernhard
jene Vertrautheit mit Aspekten moderner Kunsttheorie und mit aktuellen literar-
Ă€sthetischen Fragestellungen, die Handkes Rundfunkfeuilletons auszeichnet, ganz
und gar vermissen lassen.
Bernhard lobt in seinen kurzen Berichten ĂŒber das Salzburger literarische
Leben âbeschaulich-besinnliche ErzĂ€hlungenâ (TBW 22.1, 125) sowie âzuchtvoll[e]
und klar[e]â Verse (TBW 22.1, 320), er freut sich ĂŒber die âschöne besinnliche
Stundeâ (TBW 22.1, 121), die Theodor Renzls Mundartgedichte dem Publikum
bereitet haben, und die âseelenvollen Strophenâ einer Lyrikerin, die sich nur
82 Zur Beziehung von Bernhard, Freumbichler und Kasparek vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard
[2015] (Anm.Â
25), S.Â
24, 27 u.Â
74, zu Bernhards Text vgl. Billenkamp: Thomas Bernhard (Anm.Â
14),
S. 55.
83 Die BeitrÀge beschÀftigten sich u. a. mit dem Fremdenverkehr, den Salzburger Festspielen, einem
Konzert der Salzburger Mittelschulen, Volksfesten in MĂŒnchen und Salzburg sowie VortrĂ€gen
ĂŒber Afrika, Atomenergie, Höhlenforschung und Gesundheitsvorsorge. Auch in der Folgezeit
erschienen neben literatur- und kulturkritischen Artikeln stets auch solche zu populÀrwissen-
schaftlichen, medizinischen, volkskundlichen und sozialen Themen mit Titeln wie Lepra ist
noch immer unheilbar, Jod verhindert Kropf, Salzburger Tracht in der Residenz, Der Sturm auf
den Nanga Parbat oder Alles fÀhrt jetzt Ski!.
84 Vgl. Waitzbauer: Thomas Bernhard in Salzburg (Anm.Â
47), S.Â
94 f. u.Â
127; Mittermayer: Thomas
Bernhard [2015] (Anm. 25), S. 94 f.; hierzu und zum Folgenden vgl. bereits meine AusfĂŒhrun-
gen in: Journalistische Arbeiten. In: Bernhard-Handbuch. Leben â Werk â Wirkung. Hg. v.
Martin Huber u. Manfred Mittermayer. Unter Mitarb. v. Bernhard Judex. Stuttgart: Metzler
2018, S. 16 â 20, hier S. 17 f.
85 Klug: Thomas Bernhards Arbeiten (Anm. 28), S. 145; vgl. auch Habringer: Der Auswegsucher
(Anm.Â
26), S.Â
35: âEine selbstĂ€ndig entwickelte Ăsthetik lĂ€Ăt sich aus den zahlreichen Kritiken
allerdings nicht ableiten.â
86 Vgl. dazu u. a. Kap. III, Abschnitt âLiteraturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten
im Radioâ.
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker296
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471