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unkommentiert neben Schriftstellern, die erst nach 1945 zu schreiben begon-
nen hatten (z. B. Erwin Gimmelsberger) oder wie Jakob Haringer 1938 ins Exil
geflohen waren. Immer wieder hat er in seinen BeitrĂ€gen fĂŒr das Demokratische
Volksblatt âauch Personen gewĂŒrdigt, die minder- bis schwerbelastete AnhĂ€nger
des NS-Regimes warenâ,141 war sich der Vergangenheit der entsprechenden Auto-
rinnen und Autoren aber wohl oft nicht bewusst. Im Bestreben, ihre Spuren zu
verwischen, waren nicht wenige ehemalige Nationalsozialisten im Literatur- und
Kulturbetrieb sehr erfolgreich; viele in den 1950er Jahren erschienene Anthologien
und Zeitschriften unterlieĂen vorsorglich biographische Angaben zur Periode
des Dritten Reichs. Dahinter steckte, so Karl MĂŒller, der sich so ausfĂŒhrlich wie
kaum jemand anderer mit dieser Thematik befasst hat, durchaus âMethode: Auf
gleiche oder Àhnliche Weise wurde nach 1945 auch in Salzburg mit den Biogra-
phien etlicher KĂŒnstler verfahren, um sie weiterhin/wieder als unbefleckte Leit-
figuren einer konservativen Kultur einsetzen zu können.â 142
Jene Schriftsteller, die âdas Dritte Reich durch ihre hervorragenden FĂ€hig-
keiten zur Mimikry unbeschadet und teilweise geehrt und geachtet ĂŒberstandenâ
hatten,143 wurden in Bernhards literaturkritischen und feuilletonistischen Texten
im Demokratischen Volksblatt nicht enttarnt und angeklagt, sondern stillschwei-
gend geduldet: âIhre Sprache ist einfach und melodiösâ, heiĂt es etwa ĂŒber Erna
Blaasâ Gedichtband Die Lieder der Mutter, âdie liedhaften Strophen sind empfind-
same Musik und von der Anrufung bis zum Siedlerhaus wölbt sich der Bogen der
fraulichen Sehnsucht, der mĂŒtterlichen Schwermut und der Daseinsfreude eines
von der Zeit gelĂ€uterten Menschen.â (TBW 22.1, 380) Klingt hier, im Verweis auf
die allmĂ€hliche âLĂ€uterungâ des lyrischen Ichs, das Wissen um die Vergangenheit
der Schriftstellerin an? Acht Jahre zuvor war Blaasâ gesamtes Werk vom öster-
reichischen Unterrichtsministerium gesperrt und auf die âListe der verbotenen
Autoren und BĂŒcherâ gesetzt worden; 1957 indes sollte Blaas den Georg-Trakl-
Preis erhalten, 1969 den Adalbert-Stifter-Preis des Landes Oberöster reich und
1970 den Ehrenring der Stadt Salzburg. Und Ironie der Geschichte: 1965 wurde ihr
der Professorentitel von jenem Ministerium ehrenhalber verliehen, das 20Â
Jahre
zuvor ihre BĂŒcher auf den antinazistischen Index gesetzt hatte.144
Auch die 1955 von Bernhard gemeinsam mit Elisabeth Effenberger und Josef
Hödlmoser veranstalteten âWochen österreichischer Dichtungâ weisen das
141 Polt-Heinzl: Thomas Bernhard betritt die Wiener Szene (Anm. 66), S. 58 f.
142 MĂŒller: ZĂ€suren ohne Folgen (Anm. 25), S. 270.
143 Anton Thuswaldner: Ăsterreichische VerhĂ€ltnisse. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur.
Wider ihre VerĂ€chter. Hg. v. Christian Döring. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S.Â
108 â 119, hier
S. 115 f.
144 Zu Blaasâ Werdegang vgl. MĂŒller: Die Bannung der Unordnung (Anm.Â
32), S.Â
185 f. u.Â
194 â 196;
ders.: ZĂ€suren ohne Folgen (Anm. 25), S. 267 â 270.
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker310
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471