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Wie in anderen Fällen liegt auch hier der Verdacht nahe, dass Bernhard für sei-
nen Bericht über die Konjunkturen des Taschenbuchmarktes kaum eingehende
Recherchen angestellt hat; ob er, wie es im Artikel heißt, tatsächlich „Gespräche[
]
mit deutschen Verlegern“ (TBW 22.1, 268) geführt hat oder diese nicht vielmehr
aus zweiter oder dritter Hand kolportiert, bleibt unklar. Wenige Tage später, am
16. November 1953, musste das Demokratische Volksblatt jedenfalls eine Erwi-
derung des Rowohlt Verlags veröffentlichen, weil Bernhard, so Herbert Moritz,
mit falschen Zahlen hantiert hatte und von einem Rückgang der Absatzzahlen
nicht die Rede sein konnte.169
Mit seinen Vorbehalten gegenüber der Aufmachung und dem Marketing-
konzept der neuen Taschenbuchreihen
– 1952 waren u. a. die Verlage S. Fischer
und List dem Vorbild Rowohlts gefolgt 170
– konnte Bernhard im konservativen
österreichischen Literaturbetrieb dieser Zeit auf Zustimmung zählen, etwa
vonseiten Hans Weigels, der noch 1959 als Beitrag zur „Diskussion über das
Problem der Taschenbücher“ der Überzeugung war,171 dass die „TB-Seuche“
mittlerweile „einen erschreckenden Umfang angenommen“ habe.172 Obschon
sich Weigels Rekonstruktion der Rolle des Taschenbuchs im Literatursystem der
Nachkriegszeit deutlich subtiler und fundierter ausnimmt als jene Bernhards,
stimmt er mit dem jungen Autor doch darin überein, dass „die gewaltige Pro-
blematik der industriellen TB-Erkrankung“ nicht zuletzt in der mangelnden
„Rücksicht auf übermaterielle Werte“ bestehe: „[G]eistige und künstlerische
Werte“ würden in der Diskussion über das Taschenbuch auf unbotmäßige Weise
„mit industriellen Mitteln vermengt“.173 Weigel koppelt das Taschenbuch Schritt
für Schritt mit verschiedenen medizinischen Termini, wenn er vom „TB-infi-
zierten Verlagswesens“, von „TB-Erkrankung“, „TB-Seuche“ und „TB-Epi-
demie“ schreibt, wobei seine Wortschöpfungen mit der gängigen Abkürzung
für die Tuberkulose (TB bzw. TBC) spielen, einer gerade in den Kriegs- und
Nachkriegsjahren grassierenden Lungenerkrankung. „Die TB-Epidemie ver-
hält sich zum regulären Buchwesen“, so Weigels abschließende Wendung, wie
der Film zum Theater“:
Bedenklich, wie bei der Theater-Film-Beziehung, ist auch bei der TB-Infektion, daß
allenthalben mit dem Gegner zusammengearbeitet wird, statt daß man auf reinliche
169 Vgl. Moritz: Lehrjahre (Anm. 44), S. 159.
170 Vgl. Rössler: Pro(roro)vokation (Anm. 168), S. 149 – 154.
171 Hans Weigel: Die TB-Seuche. Das große Geschäft mit den kleinen Büchern. [1959] In: H. W.:
Nach wie vor Wörter. Literarische Zustimmungen, Ablehnungen, Irrtümer. Graz u. a.: Styria
1985, S. 222 – 229, hier S. 222.
172 Ebd., S. 224.
173 Ebd., S. 228.
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker320
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471