Page - 323 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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erst allmĂ€hlich lösen können, als habe die Warnung des GroĂvaters noch lĂ€nger
in seinen Ohren geklungen.
Dem bildenden KĂŒnstler Josef Hödlmoser bescheinigte Bernhard in einem
Artikel vom 22. Juli 1953, man habe es bei ihm mit einer âeigenwilligen, von
den verschiedenen Kunst-Strömungen und -Seuchen noch nicht angegriffenen
Persönlichkeit zu tunâ (TBW 22.1, 219); dem in diesen Tagen ebenfalls auf der
Salzburger Festung ausstellenden Bildschnitzer Lois Lindner attestierte er im
folgenden Absatz, ein âruhende[r] Polâ zu sein: âverwurzelt in der Tradition, aber
dem Neuen voll aufgeschlossenâ (TBW 22.1, 220). Wenn Bernhard sich in diesen
Jahren ĂŒber den Zusammenhang von Ăberlieferung und Gegenwart, von Tradi-
tion und âNeuemâ, d. h. zum VerhĂ€ltnis des Bestehenden zu seiner Ăberschreitung
Ă€uĂert, flĂŒchtet er nicht selten in rhetorische Floskeln und AllgemeinplĂ€tze: âAuch
der StÀdter kann nur bestehen, wenn er neben dem Neuen immer wieder auch
das Alte pflegtâ, heiĂt es etwa im November 1953 in einem Bericht zum besinn-
lichen Salzburger Advent: âJedes Land hat seine Vergangenheit, seine Lieder und
TÀnze, Spiele und Trachten, und nur aus dem Althergebrachten können wir, oft
vom Wege abgekommen, neue wirkliche Impulse schöpfen.â (TBW 22.1, 317)183
Mit dem âNeuenâ, das Bernhard hier recht vage im Blick hat, sind freilich
kaum die internationalen Avantgardebewegungen dieser Jahre gemeint; Salz-
burg lag in den frĂŒhen 1950er Jahren abseits jener Auf- und UmbrĂŒche, die das
Etablierte und Gewohnte im Gestus der Provokation zurĂŒckwiesen und die
Institutionen und Statthalter der Tradition infrage stellten: Im jenem Jahr, in
dem John Cages ikonisches MusikstĂŒck 4â33ââ in der Maverick Concert Hall in
Woodstock uraufgefĂŒhrt wurde (29. April 1952), erschien im Demokratischen
Volksblatt Bernhards heiter-harmlose ErzĂ€hlung von einer RadioĂŒbertragung der
Salzburger Festspiele (vgl. TBW 22.1, 51 â 54). Gesendet wurde die UrauffĂŒhrung
von Richard Straussâ Die Liebe der Danae, die musikalische Leitung hatte jener
Clemens Krauss inne, der schon die fĂŒr den Sommer 1944 geplante Premiere der
Oper hÀtte dirigieren sollen, die infolge des Attentats auf Adolf Hitler abgesagt
wurde.184 Und eine Woche bevor H. C. Artmann in Wien seine Acht-Punkte-Pro-
klamation des poetischen Actes prĂ€sentierte (5.Â
April 1953),185 besprach Bernhard
183 Vgl. dazu Moritz: Lehrjahre (Anm. 44), S. 71, sowie den kritischen Kommentar von Klug:
Thomas Bernhards Arbeiten (Anm. 28), S. 144: âBernhard wird diesen Gemeinplatz vom
Alten und Neuen auch in seinen Kulturberichten wiederholen, dabei aber keinerlei Zweifel
daran lassen, zu welcher Seite er den Ausschlag zu geben gedenkt: zur Tradition und alther-
gebrachten Ordnung, aus welcher das Neue bruchlos als Aktualisierung des Immergleichen
hervorzugehen habe.â
184 Zu Kraussâ Rolle im Dritten Reich vgl. Rathkolb: FĂŒhrertreu und gottbegnadet (Anm. 164),
S. 106 â 113.
185 Vgl. Gerhard RĂŒhm: Vorwort. In: Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, RĂŒhm,
Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Hg. u. mit einem Vorwort v. G. R. Reinbek b.
Alte Zöpfe, neue Pferde 323
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471