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Kulturkreisen, ja zu einem zeitweise geradezu meinungsbildenden Kommentator
entwickelt“.226 Trotzdem scheint Bernhard, was das literaturkritische Schreiben
im engeren Sinn angeht, ab Mitte der 1950er Jahre wenig Interesse an der Rolle
des „gefürchteten Kritiker[s]“ gehabt zu haben.227 Die Polemiken gegen das Salz-
burger Landestheater (1955) und gegen den Opportunismus seiner schreibenden
Kolleginnen und Kollegen (Ein Wort an junge Schriftsteller, 1957; Junge Köpfe,
1959) folgen zwar grundsätzlich einer Rhetorik des radikalen Verrisses, wenn die
sachliche Gegenrede vom polemischen Furor überlagert wird, aber sie widmen
sich nicht einzelnen Autorinnen und Autoren, sondern allgemeinen Entwicklun-
gen und Missständen. Der Bericht zu einer Lesung Bernt von Heiselers in den
Salzburger Nachrichten vom 8. September 1955 war für lange Zeit der letzte im
engeren Sinn literaturkritische Kommentar. In einem Brief vom 23. April 1956
ist zwar davon die Rede, Bernhard habe Gerhard Fritschs Roman Moos auf den
Steinen für eine Münchner Zeitung besprochen – vermutlich für den Münch-
ner Merkur, in dem er 1955 Weinhebers Gedichte rezensiert hatte –;228 ein Text
Bernhards über den ersten Roman seines langjährigen Freundes ließ sich bis-
lang jedoch nicht ermitteln.
In der Folge erhob es Bernhard zu seiner Maxime, „auf Aufforderungen der
journalistischen gemeinen ebenso essaiistischen gemeineren Umwelt überhaupt
nicht zu reagieren“, worunter wohl auch Rezensionsanfragen zu verstehen sind.
Er müsse sich, so Bernhard am 28. Juli 1969 an Siegfried Unseld, den „Platz am
Schreibtisch“ für die „eigenen Gedanken fortwährend frei […] machen“ und
das Schreiben „allein für mich“ reservieren: „Ist Ihnen nie aufgefallen, dass ich
weder Artikel noch Essays etcetera veröffentliche, während es doch soviel Geld
eintragen würde etcetera.“ 229 Von Zeitschriftenredaktionen wie jener des Merkur
dazu aufgefordert, neben lyrischen Texten, fiktionalen Prosaformen oder Skiz-
zen aus Theaterstücken gerne auch ein „Wort zur Zeit“ oder „mutige Wahrhei-
ten“ zum „Kulturbetrieb“ einzusenden,230 hat Bernhard meist ausweichend bis
226 Ebd., S. 163.
227 Klaus Gmeiner, Bernhards Studienkollege am Salzburger Mozarteum, hat zum Habitus
Bernhards in diesen Jahren festgehalten: „Kollegen wurden kritisiert, oft fielen harte zynische
Urteile. Auch die Damen und Herren Professores wurden ätzend analysiert. Ich will nicht
verschweigen, dass auch ich oft Zielscheibe seines Sarkasmus war.“ „Selbstkritik“ jedoch sei
Bernhard „fremd“ gewesen (Klaus Gmeiner: „Hic Buzli, Bazli, Bali – Ich bin der Zauberer
Kemikali“. In: Was reden die Leute [Anm. 46], S. 32 – 35, hier S. 33 u. 35).
228 Vgl. Bernhard an Fritsch, 23. 4. 1956. In: Bernhard/Fritsch: Der Briefwechsel (Anm. 205), S. 8:
„Die Besprechung von ‚Moos‘ ist nach München abgegangen. Ich hoffe, daß sie bald kommt
–“.
Dazu Apostolo: Thomas Bernhards unveröffentlichtes Romanprojekt (Anm. 76), S. 52.
229 Bernhard an Unseld, 28. 7. 1969. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 36), S. 118 f.
230 Hans Paeschke an Thomas Bernhard, 25. 5. 1975. In: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Hand-
schriftensammlung, D: Merkur, HS.NZ80.0003.
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker334
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471