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abwehrend reagiert. Ebenso dürfte er Einladungen, sich erneut als Literaturkriti-
ker zu betätigen, wiederholt zurückgewiesen haben, wie Karl Ignaz Hennetmair,
Bernhards langjähriger Vertrauter und Kompagnon, in seinem Tagebuch des
Jahres 1972 festgehalten hat: Der Autor war dabei, so hat es in Hennetmairs
launiger Schilderung jedenfalls den Anschein, nicht zuletzt in Sorge um seine
literarische Reputation, die er durch das ‚niedere‘ Handwerk der Literaturkritik
potentiell beschädigt sah:
Um 10 Uhr 30 traf ich in Nathal bei Thomas mit der Post ein. Ein eingeschriebe-
ner Brief aus Frankfurt war auch dabei. Den öffnete Thomas sofort und las laut:
Du kennst meine Sendung „Welt des Buches“ … Ohne den Brief ganz zu Ende
zu lesen, zerriß ihn Thomas und sagte: Der will schon wieder, daß ich ein Buch
bespreche.
[…] Jetzt habe ich dem [Janko von] Musulin schon einmal abgesagt, der
müßte doch endlich begreifen, daß ich das nicht mache. Ich sagte: Wenn er deine
Bücher kennt und begriffen hat, dann muß er doch wissen und begreifen, daß
deine bisherige Arbeit eine Buchbesprechung ausschließt. Ja, sagte Thomas, aber
der begreift nicht einmal, wie schlecht er selbst ist. Ich kann kein Buch besprechen,
alles kann ich machen, nur das nicht. Eher könnte ich auf das Welser Volksfest als
Hutschenschieber gehen, das würde mir weniger schaden, als wenn ich ein Buch
bespräche. Und ganz leise und verschmitzt fügte Thomas hinzu: Stell dir vor, ein-
tausend Schilling hat er mir dafür geboten. Und nach einer kurzen Pause sagte
er ganz laut: Und um hunderttausend Schilling würde ich mir schaden, wenn ich
das machen würde.231
Eine Woche später sei Janko von Musulin sogar persönlich nach Ohlsdorf
gekommen, woraus Hennetmair in seinen erst lange nach Bernhards Tod publi-
zierten Aufzeichnungen eine etwas träge, weil im Grunde pointenlose Szene
entfaltet:
Musulin fragte Thomas, ob er das Buch schon gelesen habe. Thomas sagte nein, denn
er werde es nicht besprechen. Wieso, fällt dir nichts ein? fragte Musulin. Thomas
sagte, daß er so etwas überhaupt nicht mache, es tue ihm leid, aber er bespreche kein
Buch. Er kann kein Buch besprechen, er könnte es höchstens vernichten, sagte ich zu
Musulin. Ich dachte, „Ein Faß voll Leben“ wäre was für ihn, sagte Musulin. Thomas
griff zum Fensterbrett und legte das Buch von Christy Brown [232] vor Musulin hin.
Da hast du es, sagte er zu Musulin. Das Buch war noch in der Zellophanhülle, und
Musulin sagte, du hast es ja noch nicht einmal angeschaut. Weil ich es nicht bespreche,
231 Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard (Anm. 111), S. 420 (Eintrag v. 2. 10. 1972).
232 Down All the Days (1970), ein Roman des irischen Autors Christy Brown, erschien 1972 in
deutscher Übersetzung unter dem Titel Ein Faß voll Leben im Scherz-Verlag.
„Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen 335
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471