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gegenüber der Sozialdemokratie verbindet sich dabei mit dem Vorwurf an die
Schriftsteller Roth und Turrini, der Politik als willfährige Handlanger zu dienen
und damit die Idee künstlerischer Autonomie zu verraten.42 Wie in den frühen
publizistischen Inventionen Ein Wort an junge Schriftsteller (1957) und Junge
Köpfe (1959) entzündet sich der polemische Furor nicht primär an der Ableh-
nung bestimmter literarästhetischer Positionen, sondern an den Autorschafts-
und Lebensentwürfen der attackierten Schriftsteller. Hatte Bernhard schon Mitte
der 1950er Jahre andere Autoren als vor der „Partei“ kapitulierende „Handlan-
ger“ geschmäht, für die „Bücklinge“ und „Kratzfuß“ zum selbstverständlichen
Repertoire ihres künstlerischen Habitus gehörten (TBW 22.1, 566 f.), richtet sich
seine Kritik auch hier im Besonderen gegen das seiner Meinung nach unterwür-
fige Einvernehmen der Literaten mit den politischen Machthabern. Weil es im
literarischen Feld zum Ethos des autonomen, selbstbestimmten Schriftstellers
gehört, „Ansprüche oder Forderungen weltlicher Mächte zu übergehen, ja sie
im Namen ihrer eigenen Grundsätze und Werte zu bekämpfen“,43 wiegen die
Vorwürfe des Rezensenten besonders schwer.
Bernhards Vorhaltungen gewinnen gerade dadurch an Schärfe, dass man
Gerhard Roth und Peter Turrini in der öffentlichen Wahrnehmung gemeinhin
ebenfalls zu den unbequemen Schriftstellern des Landes rechnete, deren Texte
nicht selten kontrovers rezipiert wurden.44 Bernhard attackierte damit, das darf
an dieser Stelle nicht vergessen werden, unmittelbare Konkurrenten im Kampf
um mediale Aufmerksamkeit: Der dreizehn Jahre jüngere Turrini hatte mit der
1971 uraufgeführten rozznjogd kurz nach Bernhards erstem abendfüllenden Stück
Ein Fest für Boris (1970) als neuer, innovativer und durch seine rohe Bühnen-
ästhetik provozierender Autor am Theater reüssiert.45 Mit den Aufführungen
von sauschlachten (1972) in den Münchner Kammerspielen und am Wiener
Volkstheater gelang es ihm wenig später, die in ihn gesetzten Hoffnungen zu
42 Vgl. Nina Birkner: Vom Genius zum Medienästheten. Modelle des Künstlerdramas im 20.
Jahr-
hundert. Tübingen: Niemeyer 2009, S.
243; Billenkamp: Thomas Bernhard (Anm.
26), S.
363.
–
Auf Annotationen in Bernhards Rezensionsexemplar des Kreisky-Bandes verweist der Kom-
mentar in TBW 22.1, 827.
43 Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. In: P. B.: Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches
Feld. Schriften zur Kultursoziologie 4. Hg. v. Franz Schultheis u. Stephan Egger. Berlin: Suhr-
kamp 2015, S. 339 – 447, hier S. 352.
44 Vgl. exemplarisch Nicholas J. Meyerhofer: Peter Turrini as political writer. In: I am too many
people. Peter Turrini, playwright, poet, essayist. Hg. v. Jutta Landa. Riverside: Ariadne Press
1998, S. 30 – 43. – Rathkolb: Die paradoxe Republik (Anm. 14), S. 333, nennt Turrini neben
Bernhard und Elfriede Jelinek als Beispiel einer prononciert „österreichkritische[n] Literatur“.
45 Dazu u. a. Wendelin Schmidt-Dengler: Peter Turrinis rozznjogd als Initialzündung. In: Peter
Turrini, Schriftsteller. Kämpfer, Künstler, Narr und Bürger. Mit einer Rede Peter Turrinis. Hg.
v. Klaus Amann. St. Pölten, Salzburg: Residenz 2007, S. 74 – 83.
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard358
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471