Page - 363 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Image of the Page - 363 -
Text of the Page - 363 -
auf das, was ich geschrieben habe.â 57 Der Bundeskanzler nahm Handke schon
in den Debatten, die im Mai und Juni 1975 auf die polemischen Bemerkungen
des Autors zum JubilÀum des österreichischen Staatsvertrags folgten, in Schutz.
Leserinnen und Leser der Kleinen Zeitung hatten sich ĂŒber Handkes AusfĂŒhrun-
gen, die zunĂ€chst im ORF gesendet worden waren, erbost gezeigt: âDer Staats-
vertrag wurde von unsereinem eher als sportliches Ereignis aufgenommen, das
man neugierig verfolgt, solange es im Fernsehen ĂŒbertragen wirdâ, heiĂt es in
Handkes Fernsehbeitrag, der unter dem Titel Wirkliche MĂ€chte in Ăsterreich am
18. Mai 1975 in der Kleinen Zeitung gedruckt wurde:58
Aber wenn man abschaltet, ist man in seiner eigenen Welt wieder ganz verriegelt.
Diese eigene Welt war Ăsterreich, in dem man sich auch ohne Russen und EnglĂ€nder
besetzt fĂŒhlte, von den BesatzungsmĂ€chten der materiellen Not, der HerzenskĂ€lte der
Religion, der GewalttÀtigkeit von Traditionen, der brutalen Gespreiztheit der Obrig-
keit, die mir nirgends fetter und stumpfsinniger erschien als in Ăsterreich.59
57 Sigrid Löffler: âAls Schreibender krepiert man fastâ. GesprĂ€ch mit Peter Handke. In: profil,
27. 4. 1981, S. 58 â 60, hier S. 60. Vgl. Gerhard Neureiter: Was man vom Fernsehen kennt, das
kennt man nicht. SN-Interview mit dem Dichter der Festspielpremiere Ăber die Dörfer, Peter
Handke, zur Politik. In: Salzburger Nachrichten, 21. 8. 1982, worin Handke angibt, âmanchmal
mit Bruno Kreisky gesprochenâ zu haben: âAber so ist es wahrscheinlich einigen Schriftstel-
lern, auch Malern, ergangen. So ganz ungezwungen, daĂ er mich gefragt hat, ob man nicht
eine Stunde reden könnte. Da habe ich auch vielfĂ€ltige EindrĂŒcke gewonnen, als Bilder und
als SĂ€tze.â So könnte Bernhards â freilich bereits vor Handkes zitierten Interviewaussagen
getĂ€tigteÂ
â Bemerkung ĂŒber Kreiskys VerhĂ€ltnis zu österreichischen Kulturschaffenden in Der
pensionierte Salonsozialist auch auf seinen Konkurrenten Handke gemĂŒnzt werden: âMit den
groĂen KĂŒnstlern und Denkern auf du, heiĂt es ununterbrochen, aber es sind dann doch nur
die KleinkĂŒnstler und die Kleindenker, deren HĂ€nde er schĂŒttelt.â (TBW 22.1, 621)
58 Der Text wurde 1980, leicht verÀndert, als Persönliche Bemerkungen zum JubilÀum der Republik
in den Band Das Ende des Flanierens aufgenommen.
59 Peter Handke: Persönliche Bemerkungen zum JubilÀum der Republik. [1975] In: P. H.: Das
Ende des Flanierens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S.Â
56 â 59, hier S.Â
56. Im 1977 publizierten
Journalband Das Gewicht der Welt greift Handke die Formulierung aus dem letzten zitierten
Satz unter der Datumsangabe âDezember 1975â noch einmal auf: âDas Fette, an dem ich wĂŒrge:
Ăsterreichâ (Peter Handke: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975Â â MĂ€rz 1977).
Salzburg: Residenz 1977, S. 21); siehe dazu Peter Handke an Alfred Kolleritsch, 3. 3. 1977. In:
P.Â
H./A.Â
K.: Schönheit ist die erste BĂŒrgerpflicht. Briefwechsel. Salzburg, Wien: Jung und Jung
2008, S.Â
103.Â
â Fast vierzig Jahre spĂ€ter findet sich der Begriff in einer Interviewpassage Hand-
kes ĂŒber Thomas Bernhard, die sich in weiterer Folge zur Abrechnung mit dem einst geschĂ€tz-
ten Kollegen entwickelt: âAls junger Schreiber hat mir Thomas Bernhard ja gut getan, wie er
da als Ăsterreicher mit einem SpieĂ das fette Land durchstieĂ. Die ersten zwei, drei BĂŒcher
waren wie eine Erlösung fĂŒr mich. Aber allmĂ€hlich hat es angefangen, mich abzustoĂen und
zu erzĂŒrnen.â (Julia Encke: Schimpfen ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit. [GesprĂ€ch mit Peter
Handke.] In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 41, 11. 10. 2015, S. 53)
âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 363
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471