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Nicht die Freude ĂŒber die Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai 1955
und die âBefreiungâ von den alliierten BesatzungsmĂ€chten steht in Hand-
kes Reflexionen im Mittelpunkt. Seine Erinnerung an das Zwangssystem des
âBrauchtum[s]â, die âFachidiotieâ der UniversitĂ€tsprofessoren und den âEigen-
dĂŒnkelâ, der ihm bei jedem spĂ€teren Besuch aus den österreichischen Tages-
zeitungen âentgegen[ge]brutzeltâ sei,60 ergĂ€nzt Handke im zweiten Teil seines
Textes um positivere Bilder seines Heimatlandes. Sie bleiben allerdings nicht
frei von Ambivalenzen und eignen sich in ihrer Betonung von âDistanzâ und
âBefremdungâ kaum fĂŒr die Feier politischer JubilĂ€en, die zumal in den ersten
Jahrzehnten der Zweiten Republik nicht dazu angetan waren, sich (selbst-)kri-
tischen Fragen zu stellen:
Ich bin kein RevolutionĂ€r, von dem man sagt, er mĂŒsse sich im Volk bewegen âwie
ein Fisch im Wasserâ. Aber ich spĂŒre doch beim Schreiben immer mehr diese Not-
wendigkeit, dem Land, ohne das ich ja nicht das wÀre, was ich schlecht oder recht
geworden bin, möglichst nahe zu sein und dem sogenannten Volk, von dem ich ja
ein Teil bin; dabei doch die Distanz und nötige Befremdung bewahrend, ohne die
man ĂŒber ein Land nicht gerecht schreiben kann.61
Die Betrachtungen des seit 1966 im Ausland (zunĂ€chst in DĂŒsseldorf, spĂ€ter in
Berlin, Kronberg/Taunus und Paris) lebenden Autors, der sich bereits ein Jahr
zuvor im Almanach des Residenz Verlags ĂŒber den âhysterische[n] Patriotis-
mus eines kleinen Landesâ geĂ€uĂert hatte,62 bleiben zwiespĂ€ltig â und boten
diverse AngriffsflĂ€chen fĂŒr erboste Patrioten. Handkes AusfĂŒhrungen changie-
ren zwischen kritischen Kommentaren zum politisch-gesellschaftlichen Klima
und zur Ăkonomisierung des österreichischen Kulturerbes einerseits und einer
durchaus freundlichen Erinnerung an seine Herkunft und die Bewohner des
Landes andererseits:
Wenn ich jetzt in Ăsterreich bin, fĂŒhle ich manchmal ein schönes Einsinken in dieses
Land, fĂŒhle mich fast optimistisch, als einer unter anderen, höre sogar manchmal die
Kirchenglocken mit Freude und schĂŒttle mich doch, wenn die Welt im Fernsehen wie
eine amerikanisierte Lipizzaner-Show erscheint, wenn Soldaten zu Tode geschunden
werden, wenn im slowenischen KĂ€rnten zweisprachige Ortstafeln umgeworfen wer-
den usw. / Beides gehört zu Ăsterreich. / Ich liebe ĂsterreichÂ
⊠nicht, denn ein Land
kann man nicht lieben, höchstens Menschen. Aber LiebesgefĂŒhle zu Menschen sind
60 Handke: Persönliche Bemerkungen zum JubilÀum der Republik (Anm. 59), S. 57.
61 Ebd., S. 58.
62 Peter Handke: Ăsterreich und die Schriftsteller. In: Literatur im Residenz Verlag. Almanach
auf das Jahr 1974. Salzburg: Residenz 1974, S. 57 â 61, hier S. 57.
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard364
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471