Page - 365 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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unfrei in einem Land oder Staat, in dem man sich unfrei fĂŒhlt, weil es noch so viele
geheime BesatzungsmÀchte gibt. Und ich habe Lust, durch meine Arbeit die mörde-
rische Gewalt dieser doch eigentlichen BesatzungsmÀchte vermindern zu helfen; das
kann man allerdings nicht mit einem Staatsvertrag erreichen.63
Gerade die Verweigerung der Heimat-Liebe, so differenziert sie hier auch vor-
gebracht wird, sollte sichÂ
â wie im Zuge anderer österreichischer Literaturskan-
daleÂ
â als Stein des AnstoĂes erweisen.64 In den folgenden Wochen entwickelte
sich auf der Leserbriefseite der Kleinen Zeitung eine heftige Debatte, an der
auch zahlreiche prominente Akteure des politischen und literarischen Lebens
teilnahmen. Handkes âArt von Verbundenheit und Verpflichtungâ sei ihm, so
Bruno Kreisky in einer Zuschrift an die Zeitung vom 6. Juni 1975, âungleich
lieber als jene, die sich durch bloĂe Nachahmung bei uns ĂŒblicher Lebensfor-
men und BrĂ€uche kundtutâ.65 Zuvor hatten Leserbriefschreiber Handke unter
anderem vorgeworfen, seine AusfĂŒhrungen erinnerten âan das Gegreine eines
vom Ruhm maĂlos verwöhnten Einzelkindesâ;66 er sei unehrenhaft âins Aus-
landâ geflĂŒchtet, âum von der Position des arrivierten Autors gebĂŒndelte Blitze
des Zornesâ aus Paris in die Heimat âzu schleudernâ 67Â
â ein beliebtes Muster der
Denunziation von KĂŒnstlerinnen und KĂŒnstlern, die ihren Lebensmittelpunkt
auĂerhalb ihres Herkunftslands haben: Sie hĂ€tten, so will es dieses Narrativ,
durch ihre âFluchtâ ins Ausland das Recht verwirkt, sich ĂŒber MissstĂ€nde in der
Heimat zu echauffieren.
63 Handke: Persönliche Bemerkungen zum JubilÀum der Republik (Anm. 59), S. 58 f.
64 Zu diesem Aspekt in Handkes Werk vgl. exemplarisch Karl Wagner: â[âŠ] wenn dir nicht ein
Traum von ihr genĂŒgt.â Peter Handke, Heimatsucher. In: Ferne Heimat â Nahe Fremde. Bei
Dichtern und Nachdenkern. Hg. v. Eduard Beutner u. Karlheinz Rossbacher. WĂŒrzburg: Königs-
hausen & Neumann 2008, S. 203 â 213; Christoph Parry: Von Ahnen und Enklaven. Staat und
Heimat bei Peter Handke. In: Text + Kritik (2015), Sonderbd. âĂsterreichische Gegenwartslite-
raturâ, S. 71 â 82. â Zu dieser Thematik bei Bernhard vgl. z. B. Renate Langer: âErde, Erbe, was
war das immer?â Thomas Bernhards Heimatkomplex. In: Thomas Bernhard und Salzburg. 22
AnnÀherungen. Hg. v. Manfred Mittermayer u. Sabine Veits-Falk. Salzburg, Wien: Jung und
Jung 2001, S. 41 â 48; Manfred Mittermayer: âAufzuwachen und ein Haus zu haben.â Thomas
Bernhards âHeimatkomplexâ in frĂŒhen und frĂŒhesten Texten. In: Ferne HeimatÂ
â Nahe Fremde
(Anm. 64), S. 186 â 202.
65 Bruno Kreisky: Wahr ist, was einer denkt. In: Kleine Zeitung, 8. 6. 1975.
66 Rudolf E. Kellermayr: Vom Ruhm verwöhnt. In: Kleine Zeitung, 31. 5. 1975. In anderen Leser-
briefen ging diese EinschĂ€tzung gar mit medizinischen Diagnosen einher: âPeter Handke ist
der Typ des milieugeschÀdigten, neurasthenischen Kindes, das deshalb Schwierigkeiten mit
sich, der Umwelt und der Schule hatte. Diese Schwierigkeiten im eigenen familiÀren Bereiche
und die daraus resultierenden Kettenreaktionen werden heute noch der Umwelt und der Schule
angelastet.â (Matthias Offner: Dann wĂ€re Handke ein groĂer Dichter ⊠In: Kleine Zeitung,
31. 5. 1975) FĂŒr den Hinweis auf die Leserbrief-Materialien danke ich Christoph Kepplinger-Prinz.
67 Heinz Stritzl: Amoklauf gegen Ăsterreich. In: Kleine Zeitung, 5. 6. 1975.
âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 365
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471