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Er sei ĂŒberzeugt, so der ErzĂ€hler, der sich die apodiktische Rhetorik des Verstor-
benen rasch zu eigen macht, dass Roithamer durch âdie totale Korrektur seiner
Studieâ, die âvon ihm nicht vernichtet, sondern vollendet wordenâ sei, den Cha-
rakter der Studie âin einem infamen KorrekturprozeĂ in sein Gegenteil verkehrtâ
habe, ja diese im Zuge der nochmaligen Bearbeitung âerst zur vollendeten Studie
gewordenâ sei (TBW 4, 77). Zwar könne â[j]ede Korrekturâ mit âZerstörung, Ver-
nichtungâ gleichgesetzt werden, sie berge aber auch das Potential, dass, âdurch
die Vernichtung des alten, ein völlig anderes, neues Manuskript entstehtâ (TBW
4, 313). Die Perfektionierung der intellektuellen Substanz des Geschriebenen 128
steht dabei in einem SpannungsverhÀltnis zum Abbruch der Anstrengungen als
Krönung der Unternehmung, sei es doch, so Roithamer zweideutig, âdas Höchsteâ,
âkein neues [Manuskript] mehr entstehen zu lassen, nichts mehr zu korrigieren,
zu vernichtenâ (TBW 4, 313). Ob das ideale Ende des Korrekturvorgangs hier die
Vollendung der Schrift im Sinne eines endgĂŒltigen, nicht mehr korrekturbedĂŒrf-
tigen Textes oder aber im Gegenteil die vollstÀndige Vernichtung aller Textstufen
meint, bleibt in der Schwebe.
Die Erkenntnis der UnzulĂ€nglichkeit des schriftlichen Ausdrucks fĂŒhrt
in Bernhards Roman, âwenn der Zeitpunkt fĂŒr eine solche Korrektur istâ, zur
radikalen KĂŒrzung des Textes: â[D]ann korrigiere ich und dann korrigiere ich
das Korrigierteâ, wie der ErzĂ€hler seinen Freund zitiert, âund das Korrigierte
korrigiere ich dann wieder undsofortâ (TBW 4, 285). Die Studie, in der âalles,
was Roithamer jemals gedacht hat, in der konzentriertesten und in der ihm ent-
sprechendsten Weiseâ vorliegt (TBW 4, 157), wird, mit Henry James gesprochen,
einer âfĂŒrchterlichen Revisionâ unterzogen; âeine endgĂŒltige Formâ der Stu-
die wird dabei, wie im Fall von Jamesâ âKorrigiererâ Dencombe, nie erreicht.129
Aus einer ursprĂŒnglich 800-seitigen Niederschrift habe Roithamer zunĂ€chst
eine âzweite dreihundert Seiten lange Fassungâ erstellt, aus der wiederum eine
âAchtzigseitenfassungâ hervorgegangen sei, die Roithamer âauf der Fahrt von
London nach Altensamâ erneut zu korrigieren begonnen habe, âindem er, wie
er glaubte, diese letzte kĂŒrzeste Fassung auch noch einmal kĂŒrzen und eine
noch kĂŒrzere Fassung hatte herstellen wollenâ; aus dem âĂŒber achthundert Sei-
ten umfassenden Materialâ seien schlieĂlich, âwie ich aus seinen Korrekturen
ersehen kannâ, am Ende ânurmehr noch zwanzig oder dreiĂig Seitenâ ĂŒbrig
128 Wie Thill: Die Kunst, die Komik und das ErzÀhlen (Anm. 113), S. 211, gezeigt hat, entspricht
diese âForm des Korrigierensâ in Korrektur ganz allgemein Bernhards âPrinzip des durch stĂ€n-
diges Zerdenken immer prĂ€ziser werdenden Denkensâ. Vgl. dazu auch Kappes: SchreibgebĂ€rden
(Anm.Â
98), S.Â
190: âEs ist immer eine Korrektur des Geschriebenen vonnöten hinsichtlich eines
differierenden Moments, eines von der Beschreibung UnberĂŒcksichtigten, Nicht-Erkannten
und Nicht-Gesagten, eine Korrektur, zu der Texte Bernhards in fortlaufenden Wiederholungen
ansetzen, die sie aber nie vollstĂ€ndig zu leisten imstande sind.â
129 James: Die mittleren Jahre (Anm. 112), S. 29 f.
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard382
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471