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Gomagoi erlĂ€utert der ErzĂ€hler â er arbeitet seit langer Zeit an einer meteoro-
logischen Studie â das Problem kĂŒnstlerischer Perfektionierung am Beispiel
seines Bruders: Dieser beginne immer wieder aufs Neue mit der Erarbeitung
eines KunststĂŒcks; er entwickle seine Kunst âbis zu dem Grade ihrer Vollkom-
menheitâ, der aber âgleichzeitig der Grad ihrer Auflösung, ihres Zerfallsâ sei
(TBW 14, 171). Das geschilderte Problem betrifft beide BrĂŒder gleichermaĂen:
WĂ€hrend der eine am Ausdruck seiner âKörperkunstâ (TBW 14, 172) feilt, arbei-
tet der andere an einer wissenschaftlichen Studie, die zwar âimmer wieder eine
noch viel kompliziertere Arbeitâ, aber âdoch immer wieder die gleiche ĂŒber die
Luftschichtenâ (TBW 14, 168) sei. Wiederholung und Ăberbietung des bereits
Geleisteten stehen stÀndig in einem prekÀren, an der psychischen Substanz der
BrĂŒder nagenden VerhĂ€ltnis. âUrsache aller Schriften, Zweifel ĂŒber ihr Thema,
du verstehst, alles anzweifeln, alles aus der Finsternis herausrecherchieren und
anzweifeln und vernichten. Alles. Ohne Ausnahme. Schriften sind zu vernich-
tende Schriften.â (TBW 14, 172) Als zentrale Herausforderung beschreibt der
Artist die âSchwierig keitâ, die Ergebnisse des eigenen Tuns â als Wissenschaft
oder als artistic researchÂ
â âzu zeigen oder zu veröffentlichen, ohne augenblick-
lich Selbstmord machen zu mĂŒssenâ. Kunst und wissenschaftliche Forschung
folgen, so vermittelt es das Schicksal der beiden BrĂŒder, im Grunde Ă€hnlichen
Prinzipien: âKörperkunstâ und âGeisteskunstâ stehen jeweils im Spannungs-
feld von Vollendung und Vernichtung, und die âHölle der Veröffentlichungâ
(TBW 14, 172) trÀgt dazu einen wesentlichen Teil bei.135
In ĂuĂerungen wie diesen sind die Grundkoordinaten des Schreibprojekts
Korrektur, das Bernhard ĂŒber insgesamt vier Jahre verfolgt hat, im Kern angelegt.
Der fertiggestellte Roman ĂŒberschreitet in der Folge zwar die im Brief an Botond
umrissene Konstellation deutlich, weil er den Protagonisten an seiner drastischen
Selbstkorrektur auch physisch zugrunde gehen lÀsst, macht den Bezug zu seiner
Entstehungsgeschichte aber keineswegs unsichtbar, sondern stellt ihn im Spiel
mit der âKorrektur der Korrektur der Korrektur der Korrekturâ (TBW 4, 317)
ostentativ aus. Pierre Bourdieus Idee der âSelbstobjektivierungâ,136 die der franzö-
sische Soziologie anhand von Gustave Flauberts Ăducation sentimentale entworfen
hat, geht von Ă€hnlichen Voraussetzungen aus: âIm Schreiben einer Geschichte,
die die seine [i. e. Flauberts] hÀtte sein können, negiert er, daà diese Geschichte
eines Scheiterns die Geschichte desjenigen ist, der sie schreibt.â 137 Bezogen auf
135 Vgl. Huntemann: Artistik und Rollenspiel (Anm. 37), S. 21, der bei den beiden BrĂŒdern eine
âAngst vor der EntĂ€uĂerung ihrer Produkteâ feststellt. Dazu auch die Ăberlegungen in Kappes:
SchreibgebĂ€rden (Anm.Â
98), S.Â
65 f, sowie zum Motiv der âVeröffentlichungsqualâ bei Bernhard
die Notizen von Schmied: Auersbergers wahre Geschichte (Anm. 47), S. 148 â 150.
136 Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 54), S. 55.
137 Ebd., S. 57.
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard384
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471