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Influence publizierten Arbeit die rücksichts- und skrupellose Aneignung der
Tradition zur „Formel jedes starken Dichters“ erklärt,162 finden die Reflexionen
des Literaturtheoretikers ihre Entsprechung in Bernhards fiktionalen Texten, die
das Künstlertum im Spannungsfeld von Scheitern und Triumph verorten.163 Die
selbstquälerischen Reflexionen der beiden Brüder in Am Ortler kennzeichnet
nicht nur die Angst, den eigenen Ansprüchen nie genügen zu können, sondern
auch die Scham, öffentlich „etwas zu zeigen, das man ist“ (TBW 14, 172) – und
darauf nicht das gewünschte wertschätzende Feedback zu erhalten. Der „Kunst-
stückeangst“ des einen Bruders steht die „Wissenschaftsangst“ des anderen
gegenüber (TBW 14, 173); der Künstler befindet sich am Ende der Erzählung „in
dem Innsbrucker Vorort Büchsenhausen in einer Anstalt“ – sein Bruder muss
bezweifeln, ob „er jemals wieder auftreten wird“ (TBW 14, 189).
Am prägnantesten hat Bernhard den Bestätigungszwang, unter dem viele
seiner Protagonisten leiden, in der Figur des Schauspielers Bruscon im 1985
uraufgeführten Stück Der Theatermacher entworfen. Bruscon ist eine tragische,
ja beinahe bemitleidenswerte Existenz, ein Schauspieler, der längst nicht mehr
auf den großen Bühnen auftritt, den seine Tournee, seine trostlose Never Ending
Tour, vielmehr durch Mattighofen, Gaspoltshofen, Ried im Innkreis, Zwicklett
und Utzbach führt. Nicht das distinguierte Publikum städtischer Theater besucht
die Vorstellungen seines Bühnenstücks Das Rad der Geschichte, sondern das von
ihm zutiefst verachtete „Landpack“ (TBW 19, 188).
– „Was ist dein Vater
/ was ist
dein Vater“ (TBW 19, 160), fordert er seine Tochter Sarah wiederholt dazu auf,
ihm, dem abgehalfterten Mimen, seinen künstlerischen Rang zu bestätigen. Als
Sarah, die gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Bruscons bescheidenes
Ensemble bildet, nur „Herr Bruscon“ antwortet, wirft er ihr vor, ein „[u]nver-
schämtes Mädchen“ und ein „Antitalent“ zu sein; er dulde „keine Widerrede /
und keine Gehorsamsverweigerung“ (TBW 19, 160 f.). Erst als sie auf die erneute
Frage „Also / was ist dein Vater“ unwillig und, wie es in der Regieanweisung
heißt, „widerstrebend“ repliziert, er sei „[d]er größte Schauspieler / aller Zeiten“,
ist Bruscon einigermaßen zufriedengestellt:
Na also
Das wollte ich hören
Schließlich ist es mir heute
noch nicht gesagt worden (TBW 19, 161 f.)
162 Bloom: Einflußangst (Anm.
161), S.
71; Höller: „Gewalt auch über ganz Große“ (Anm.
161), S.
70,
spricht mit Bloom von der „radikalen kritischen Aneignung“ der „Tradition“ bei Bernhard.
163 1995 nahm Harold Bloom Bernhards Holzfällen neben 28 anderen deutschsprachigen Auto-
ren des 20. Jahrhunderts in seinen Band The Western Canon auf. Vgl. Mittermayer: Thomas
Bernhard [2015] (Anm. 4), S. 375 f. Vom „Streben nach eigener Billigung“ 391
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471