Page - 410 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Handkes trotzige Wiederaufnahme des von Benjamin Henrichs maliziös heraus-
gegriffenen Wortes erinnert an Jean Cocteaus vielzitierten Rat an junge KĂŒnstler,
gerade jene Aspekte ihres Schaffens zu kultivieren und weiterzuentwickeln, die
von den Kritikern am schÀrfsten attackiert werden, weil diese ihre Individuali-
tÀt, ihr Eigenes ausmachten.52
In Mein Jahr in der Niemandsbucht lÀsst Handke sein Alter Ego Gregor Keusch-
nig, einen WiedergÀnger aus der Stunde der wahren Empfindung (1975), auf dem
Nachhauseweg âeinen Bogen vorbei an dem tagsĂŒber in die Garage gesperrten
Nachbarshundâ machen, um sich âvon dem massigen Tier, das dabei in einem
fort das Stahltor ansprang, grĂŒndlich an- und ausbrĂŒllen zu lassenâ,53 bevor er,
zu Hause angelangt, mit dem Schreiben beginnt: âDer erste Satz hernach, nicht
vorbedacht, fĂŒhrte mich gleich weit zu der Waldbucht hinaus, und jetzt erst kann
ich dorthin zurĂŒckkehren.â 54 Es ist nicht gĂ€nzlich abwegig, diese Passage auch
als Anspielung auf die konfliktreiche Beziehung Handkes zu Reich-Ranicki zu
lesen, zumal der autornahe ErzĂ€hler der Niemandsbucht die VerknĂŒpfung von
Hund und ĂŒbelwollendem Kritiker, die Handke in der Lehre der Sainte-Victoire
etabliert hatte, gleich an zwei Stellen des Buches aktualisiert, wenn er Reich-
Ranicki als âwahnsinnigenâ Köter auftreten lĂ€sst.55 Sich von Zeit zu Zeit (von
Hundeartigen oder Kritikern) aus- und anbellen zu lassen, scheint in dieser
Lesart dem Schreibprojekt des Autors gar nicht zu schaden.
WĂ€hrend der Schriftsteller und Philosoph ManĂšs Sperber der Ăberzeugung
war, man solle im Sinne der SouverĂ€nitĂ€t âseinem Feind die Gunst der erwi-
derten Feindschaft vorenthaltenâ,56 haben Thomas Bernhard und Peter Handke
ihre Feindschaften, und nicht zuletzt jene zur Literaturkritik und zu einzelnen
Literaturkritikern, sorgsam gepflegt, ja auf dem Ăbelwollen der Gegner geradezu
insistierend bestanden: âIch und meine Arbeit haben so viele Feinde, wie Ăster-
reich Einwohner hatâ, so Bernhard 1982 in seinem Beitrag zu jenem Almanach,
in dem auch Sperbers sehr viel friedfertigere Maxime abgedruckt wurde (TBW
22.1, 625). Teil dieser mehr imaginierten als tatsÀchlich bestehenden Front der
Feinde sind fĂŒr Bernhard immer auch die Journalisten und Kritiker. Er war
stets bemĂŒht, sich von den Urteilen der Rezensenten unbeeindruckt zu zei-
gen, und machte jenen Schriftstellern, die sich von einer âkleine[n] positive[n]
52 Dazu Susanne Winter: Jean Cocteau und die Schwierigkeit zu sein. In: Leben als Kunstwerk.
KĂŒnstlerbiographien im 20.Â
Jahrhundert. Hg. v. Christopher F. Laferl u. Anja Tippner. Bielefeld:
transcript 2011, S.Â
59 â 84, hier S.Â
81 f.; Robert Schediwy: RĂŒckblick auf die Moderne. Wien, Ber-
lin: LIT 2014, S. 21 f.
53 Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht (Anm. 51), S. 741 f.
54 Ebd., S. 742.
55 Ebd., S. 422.
56 ManĂšs Sperber: Meine Feinde. In: Mein(e) Feind(e). Literaturalmanach 1982. Hg. v. Jochen
Jung. Salzburg, Wien: Residenz 1982, S. 121 â 125, hier S. 125.
Kraft durch Feinde: Eine Art
Epilog410
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471