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sehr vielen Stellen vorgetragen, als daß eine solche Lectüre für junge Leute nicht
gefährlich seyn könnte […].83
Der österreichische Zensor war nicht der Einzige, der es ratsam fand, das Buch
der großen Öffentlichkeit vorzuenthalten. In Leipzig beantragte der Dekan der
theologischen Fakultät ein Verbot, weil der Roman „üble Impressiones machen
kann, welche, zumal bey schwachen Leuten, Weibs Personen, bey Gelegenheit
aufwachen, und ihnen verführerisch werden können“. Der mit der Zensur befass-
te Leipziger Bücherkommissar genehmigte den Antrag, da er sich der Meinung
anschloss, „daß dieses Buch eine Apologie des Selbstmords genannt werden
könne, die in den Händen junger Leute, von ungeübten Sinnen, auch anderen
dickblütigen Personen, um desto gefährlicher ist, da der V. zu undeterminirt von
dem Selbstmorde schreibt, und durch witzige und feine Wendungen seinen Leser
ordentlich hinreißt“.84
Die Diskussion über das Thema Suizid war in den letzten Jahrzehnten des
18.
Jahrhunderts sehr lebhaft. Die Melancholie, so der zeitgenössische Terminus
für ,Depression‘, stellte die Kehrseite der Glücksverheißung der Aufklärung dar.
Die Medizin, die sich formierende Psychologie, die Philosophie, die Theologie
und auch die schöne Literatur umkreisten verschiedene Formen von Gemüts-
schwankungen (Hypochondrie, Schwärmertum …) und ihre Bekämpfung. Fix-
punkte in diesem Diskurs waren Johann Robecks De morte voluntaria (1736),
die Exempel der Römer, zum Beispiel Cato und Brutus, und – als Autorität für
die Aufforderung auszuharren – Platos Phädros. Eine Flut von Schriften wetter-
te gegen den Suizid, den „schrecklichsten und gefährlichsten Feind der mensch-
lichen und bürgerlichen Gesellschaft“.85 „Wer Selbstmord predigt, oder beschö-
niget, der ist – der gröste Feind des Menschlichen Geschlechts!“, befand der
Theologe Gottfried Leß, Verfasser einer Abhandlung Vom Selbstmorde.86 Zed-
lers Universallexikon erinnerte daran, dass der Selbstmord eine der übelsten
Untaten und aus theologischer Sicht Todsünde sei.87 Die Warner beriefen sich
83 Protocollum commissionis librorum aulicae ddo. 2. Decembris 1774; zitiert nach Friedrich
Walter: Die zensurierten Klassiker. Neue Dokumente theresianisch-josephinischer Zensur. In:
Jahrbuch der Grillparzergesellschaft 29 (1930), S. 142–147, hier S. 145.
84 G.[ustav] Wustmann: Verbotene Bücher. Aus den Censurakten der Leipziger Bücherkommis-
sion. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst
41 (1882), Erstes Quartal,
S. 264–285, hier S. 282.
85 Johann Peter Willebrand: Grundriß einer schönen Stadt, in Absicht ihrer Anlage und Einrich-
tung zu Bequemlichkeiten, zum Vergnügen, zum Anwachs und zur Erhaltung ihrer Einwohner,
nach gekannten Mustern entworffen. Hamburg und Leipzig 1775–1776, Teil 2, S. 327; zitiert
nach Roger Paulin: Der Fall Wilhelm Jerusalem. Zum Selbstmordproblem zwischen Aufklä-
rung und Empfindsamkeit. Göttingen: Wallstein 1999, S. 11.
86 Zweyte, vermehrte Auflage. Göttingen: Vandenhoeck 1778, S. 45.
87 Klaus Oettinger: „Eine Krankheit zum Tode“. Zum Skandal um Werthers Selbstmord. In: Der
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288 6. Fallstudien
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Titel
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Autor
- Norbert Bachleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 532
- Schlagwörter
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510