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falls Liebeshelden für die Nachahmung von Werthers Selbstmord anfällig sein
könnten, die neueren Selbstmorde aber eher auf „übermäßige Schulden, Kaße-
angriffe, Veruntreuungen und dergleichen“ zurückzuführen seien. Die Hofkanz-
lei plädierte für Beibehaltung des Verbots, weil ihrer Beobachtung nach seit dem
Erscheinen des Romans die „Schwärmerey, und Hang zum Selbstmord gewiß
nicht abgenommen“ habe.106 Wenn man Werther verböte, „müßte man mit noch
weit angemessenerer Behutsamkeit den Gebrauch von Pistolen, Degen und
Meßern verbieten“.107 In der Pattstellung zwischen Kommission und Hofkanzlei
entschied der Kaiser für die Freigabe. Im Zuge der Aktion der Rezensurierung
1803–1805 wurde Werther von Neuem verboten. 1808 erhielt eine nicht näher
bezeichnete Ausgabe die Beurteilung ,erga schedam‘ – es handelt sich wohl um
den elften
Band der Werkausgabe bei Cotta (Tübingen 1808). Noch 1815 wurde
in Venedig eine Neuausgabe in italienischer Übersetzung von der Zensur
beschränkt auf Bezieher, die einer Scheda für würdig befunden wurden. Der
Zensor Pettrettini begründete sein negatives Decisum mit der demoralisieren-
den Wirkung, die der Text ausüben würde, dem schlechten Beispiel, das Werther
mit der Störung einer intakten Ehe gebe, und dem Selbstmord. Das alles werde
in der effektvollen Wiedergabe von Werthers Gedankengängen präsentiert, die
einem Sirenengesang gleich auf den Leser wirken mussten.
Romanzo di mano maestra, ma tende artificialmente a renderci insopportabile l’esis-
tenza, ed in tal modo scuote le fibre del cuore che può essere ragione di terribili con-
seguenze. Werter inammorato dell’altrui moglie semina la discordia in una onesta
famiglia e non potendo possedere l’oggetto si uccide. Li fini riflessioni delle quali egli
fa parte al lettore mescolandovi con finissimo accorgimento le idee politiche, naturali
e religiose dell’uomo sono come il canto della Sirena che a viva forza ne trae a ques-
to orrendo attentato.108
(Ein Roman von Meisterhand, der aber mit allen Mitteln der Kunst das Leben uner-
träglich erscheinen lässt und dadurch die Seele erschüttert, was fürchterliche Folgen
haben kann. Werter, verliebt in die Frau eines anderen, sät Zwietracht in einer ehren-
haften Familie und bringt sich um, da er die Frau nicht besitzen kann. Die raffinier-
ten Reflexionen, an denen er den Leser teilhaben lässt und in die er auch auf spitz-
findige Art Gedanken über Politik, Natur und Religion mischt, stellen so etwas wie
den Sirenengesang dar, der uns mit aller Kraft zu dieser schrecklichen Tat hinzieht.)109
106 Zitiert in Hans Viktor Pisk: Joseph Richter (1749–1813). Versuch einer Biographie und Biblio-
graphie. Wien: Diss. (masch.) 1926, S. 110.
107 Zitiert ebd., S. 111.
108 Zitiert in Kucher: Herrschaft und Protest, S. 133.
109 Übersetzung vom Verfasser, N. B.
6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 295
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Titel
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Autor
- Norbert Bachleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 532
- Schlagwörter
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510