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in Fragen der Liebe und Moral zeigen, fährt van Swieten fort: „sed a pagina 57
incipiendo impia habet de amando; contorte docet hippias ibi materialismum;
in nota tamen 57 monet se in 2° tomo haec refutarum esse.“131
Die kritisierten ,frevelhaften‘ Ansichten über die Liebe und die ,verschrobe-
ne‘ Lehre des Materialismus sind im Dialog des Hippias mit Agathon im sechs-
ten Kapitel des zweiten Buchs enthalten. Hippias zweifelt die Existenz einer vom
Körper unabhängigen Seele an, wenn er Agathon fragt: „Worauf gründest du die
Hofnung, daß dieser Geist noch denken werde, wenn dein Leib zerstört seyn
wird? Was für eine Erfahrung hast du, eine Meynung zu bestätigen, die von so
vielen Erfahrungen bestritten wird?“132 Schließlich bezweifelt Hippias auch die
Existenz eines höchsten Wesens, eines Weltenschöpfers, und kritisiert Agathon,
weil er sein Glück auf Phantasmen gründe und dabei das einzig wahre und rea-
le irdische Glück versäume. Wenn es einen Gott gibt, so spricht die Natur aus
ihm, und diese sagt: „Befriedige deine Bedürfnisse, vergnüge alle deine Sinnen,
und erspare dir so viel du kanst alle schmerzhaften Empfindungen.“133
Im dritten Kapitel des dritten Buches („Die Geisterlehre eines ächten Mate-
rialisten“) bringt Wieland die Lehre des Hippias auf den Punkt: Man dürfe nur
glauben, was sinnlich erfassbar sei. Die landläufigen Vorstellungen von Göttern
und Seelen seien auf Unwissenheit und Aberglauben zurückzuführen; überdies
seien sie voll von Projektionen irdischer Erfahrungen von Glückseligkeit. Die
Gegenseite lehre, die Sinne abzutöten, um zu höheren Wahrheiten vorzudrin-
gen, dies führe aber bestenfalls zu Wahnvorstellungen:
Es scheint also sehr wahrscheinlich, daß alle diese Geister, diese Welten, welche sie
bewohnen, und diese Glükseligkeiten, welche man nach dem Tode mit ihnen zu thei-
len hoft, nicht mehr Wahrheit haben, als die Nymphen, die Liebesgötter und die Gra-
zien der Dichter, als die Gärten der Hesperiden und die Inseln der Circe und Calyp-
so; kurz, als alle diese Spiele der Einbildungskraft, welche uns belustigen, ohne daß
wir sie für würklich halten.134
Der Feenroman Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva (1764) erzählt die
Geschichte der Desillusionierung („Entzauberung“) des Titelhelden, der durch
seine Erfahrungen von seinem Glauben an die Realität von Feenmärchen geheilt
wird. In Analogie zu Don Quijote taumelt er auf der Suche nach einer in einen
131 Van Leersum: Gérard van Swieten, S. 393.
132 Christoph Martin Wieland: Die Geschichte des Agathon. Quid Virtus, et quid Sapientia possit.
Utile proposuit nobis exemplar. Drei Theile. Frankfurt und Leipzig [= Orell, Geßner und Co.,
Zürich] 1766/67. Erster Theil, 1766, S. 60.
133 Ebd., S. 84.
134 Ebd., S. 98.
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302 6. Fallstudien
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Titel
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Autor
- Norbert Bachleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 532
- Schlagwörter
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510