Seite - 44 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

44 Jänner 1872 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Goethe’s hinein, und aus den Reisebriefen welche Goethe an den Herzog, an Schiller u. s. w. schrieb, als er, wenige Jahre nach seiner italienischen Reise, einen Ausflug über Stuttgart und Tübingen zu Heinrich Meyer nach Stäfa machte, zeigt sich so recht deutlich wie das Verhältniß der Dichterfürsten zu ihrem Verleger nicht ein geschäftliches allein, daß es auch ein freundschaftliches war. Neben der poetischen Literatur, welche berechtigte Ansprüche auf die Be- zeichnung als „classisch“ stellen darf, besitzt das deutsche Volk noch eine zweite, welche nicht minder den Stempel der Classicität an sich trägt, seine musikalische, und hier wiederum zunächst jenen Theil derselben welcher Werke umfaßt die nicht erst das Heranziehen einer großen Anzahl von Ausführenden erheischen, um sie aus den Notenzeichen zum lebendigen Klange zu erwecken – welche vielmehr, zur sogenannten „Hausmusik“ gehörig, einem jeden dem ein Instrument und eine geübte Hand (und, falls es sich um Gesänge handelt, eine geübte Stimme) zur Verfügung steht, erlauben, sofort und augenblicklich durch edle Musik Anregung zu finden. Wie wir uns mit „Wilhelm Meister“ oder einem Bande Schiller’schen Dichtungen in der Hand gern in eine Sophaecke drücken, und uns still in die Zauberwelt unseres Poeten versenken, so legen wir auch gern eine Sonate Mozarts oder Beethovens auf das Pult unseres Piano, dessen Tasten uns sofort die Zauber- welten öffnen welche die Meister geschaffen. Kein zweites Volk, keine zweite musikalische Literatur hat etwas ähnliches aufzuweisen. Die specifisch französisch- classischen Claviermeister, wie François Couperin, Rameau u. a., schrieben recht eigentlich für die feine Rococo-Gesellschaft ihrer Zeit; zierliche Sächelchen, wel- che man kaum hören kann ohne an die vergoldeten Boudoirs schöner Marquisen und Duchesses zu denken, deren weiße beringte Finger dem kleinen, aber kostbar geschnitzten und bemalten Clavierkästchen die artigsten Klimperklänge entlo- cken, während von den Wänden Bouchers Schäfer und Amoretten auf die schöne Spielerin herablächeln. In Italien hat das Clavier nie sehr viel zu sagen gehabt, und die Hausmusik überhaupt nur eine untergeordnete Rolle gespielt; die richtigen Stellen für Musik waren in Italien Kirchen und Theater, und selbst im Salon des Palazzo that sich, wenn es höhere Musik galt, eine Anzahl „Professori und Dilet- tanti“ zu einer glänzenden „Accademia“ zusammen. In Deutschland beginnt die Blüthenzeit der Hausmusik eigentlich erst mit Mozart und Joseph Haydn. Noch der gewaltige Johann Sebastian Bach, so viel er auch für das häusliche Clavier, ja eigens zu musikalisch-pädagogischen Zwecken geschrieben (wohin nicht bloß die „Inventionen“ gehören, sondern selbst auch das „wohltemperirte Clavier“), blickt, auch wo er uns vertraulich zulächelt, wie aus der Höhe und Ferne seines Kirchen- und Orgelchors zu uns herab, und sein Sohn Karl Philipp Emmanuel Bach gab jener berühmten Sammlung von Sonaten, Rondos und Phantasien den exclusiven und excludirenden Beisatz „für Kenner und Liebhaber.“ Procul este profani! Und doch bilden gerade diese für „Kenner und Liebhaber“ componirten Stücke den richtigen Uebergang zu Joseph Haydn, „dem Stundenrufer jauchzender Stunden,“ wie ihn Jean Paul nennt, und zu Mozart, in dessen von reinster Schönheit und edelster Formvollendung getragenem Idealismus die Hausmusik selbst ihr Ideal erreicht, dem einfachen Kindersinn so faßlich und erfreulich wie den Forderungen des höchsten Kunstsinnes volles Genügen gewährend. Halten wir diese musikali-