Seite - 45 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

45 Jänner 1872 55 60 65 70 75 80 85 90 95 schen Hausgenossen hoch, und nicht minder ihre Nach folger C.  M. v.  Weber und Franz Schubert, die beiden Romantiker, in deren jedem die Romantik in andern Farben und Lichtern spielt, und endlich den hohen Meister, dessen Phantasie die Lichtsphäre der höchsten Höhen erflog und sich in das mystische Dunkel der tiefsten Tiefen versenkte – Beethoven. Diese Namen vor allen sind es welche die classische Zeit der deutschen Hausmusik bezeichnen, und sie haben sich durch ihre auf diesem Gebiete geschaffenen Werke für die Bildung – und nicht für die musikalische allein! – als ebenso wichtig und segensreich bewährt wie es unsere großen Dichter geworden sind. Als die Meister lebten und schufen, wanderten ihre Manuscripte in diesen, jenen Musikverlag. Wer ihre Werke einigermaßen vollständig beisammen haben wollte, mußte sie sich in der halben Welt mühsam zusammensuchen. Die Freude einen completen Mozart oder Beethoven in gleichartiger Ausstattung – nicht in Hochformat und Querformat aus allen Ecken zusammengelesen – auf unsern Pianofortes liegen zu sehen, wie in unsern Bücherkästen die stattlichen Bänderei- hen Schiller und Goethe stehen, diese Freude wird uns erst jetzt durch Gesammt- editionen beschieden. Um aber das geistige Wirken eines bedeutenden Mannes recht übersehen und würdigen zu können, muß man seine Werke, wenn nicht ganz, so doch in einiger Vollständigkeit beisammen haben. Auf dem Gebiete der bildenden Künste haben es jüngst die Albrecht-Dürer- und Holbein-Ausstellungen recht augenscheinlich gelehrt. Bei Componisten deren geistiger Schwerpunkt im Liede liegt, gilt dieß ganz besonders, wie z. B. bei Franz Schubert, bei Robert Franz. Erst wenn sich alle diese Blumen, so mannichfach an Farbe, Gestalt und Duft, zum vollen Kranz reihen und ründen, wird man ihren Werth und Gehalt recht zu würdigen vermögen. Man durchblättere z. B. eines der in neuerer Zeit veröffentlichten Schubert-Albums, und man wird über den Reichthum dieses Geistes erstaunen; über diese Ideenfülle, diese Schönheit und Mannichfaltigkeit der Charakteristik. Das einzelne Lied mag entzücken, erst eine Zusammenfassung vieler davon oder aller mag den vollen Begriff geben. Bei Dichtern, besonders bei den Lyrikern, ist es, aus ganz denselben Gründen, ebenso. Würden wir z. B. Uhland so hoch halten, hätten wir seine Gedichte nicht in einem handlichen Bande beisammen, sondern müßten ihnen einzeln in Taschenbüchern und Zeit- schriften nachjagen? Wenn nun auf musikalischem Felde die Sonate, die Phanta- sie, das Rondo, das Variationenwerk jedenfalls schon dem größeren Genre angehö- ren, eine Sonate z. B. mit ihren drei oder vier Sätzen eine Art von musikalischem Mikrokosmus darstellt, der, einen Kreis von Ideen und Stimmungen durchlau- fend, auch für sich allein hingestellt bedeutend zu wirken vermag, so stellt sich die Sache doch noch ganz anders wenn solche Werke des Meisters in einer wohlgeord- neten Sammlung vorliegen, besonders wenn sie zugleich Denkmale einer großen geistigen Entwicklung sind, wie z. B. bei Beethoven. Die Werke seiner letzten Periode würden nicht so viele Klagen und Anklagen hervorgerufen haben, hätte man den Weg zu ihnen „mit bedächtiger Schnelle“ von den Arbeiten der ersten Periode aus genommen. Wer sich in der Sternennacht der Sonaten Op.  109, 110, 111 nicht unheimlich fühlen soll, muß sich im heiteren Tageslicht der Sonaten Op.  2, 7 und 10 auf die Reise begeben. Die letzten Sonaten würden keine Sphinxe mehr