Seite - 46 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

46 Jänner 1872 100 105 110 115 sein, welche uns unlösbare Räthsel aufgeben, wenn wir die Sprache welche sie sprechen nach und nach von ihren Vorgängerinnen verstehen gelernt haben. In diesem Sinn ist es ein höchst glücklicher Gedanke Hans von Bülows, in einer Reihe von Vorträgen die Entwicklung Beethoven’scher Claviermusik durch treff- lich gewählte und geordnete Beispiele ganz unmittelbar anschaulich zu machen. Freilich muß man ein vollendeter Meister des Claviers und ein vollendeter Kenner Beethovens sein, wie Bülow es eben ist, um solches zu ver mögen.* Die J. G. Cotta’sche Verlagshandlung hat nun, wie früher den großen deut- schen classischen Dichtern, so auch den großen classischen deutschen Componis- ten des Pianoforte (dieser Arca sacra der Hausmusik) ihre Aufmerksamkeit zuge- wendet. Eine trefflich redigirte Auswahl der besten Claviersonaten, Rondos u. s. w. von Joseph Haydn, Mozart, C.  M. v.  Weber und Franz Schubert ist in rascher Folge erschienen – jetzt liegt uns auch in fünf sehr schön, aber ohne unnöthigen Prunk ausgestatteten Bänden Beethoven vor; correct, in ausgezeichnet eleganter, deutlichst lesbarer Notenschrift gedruckt. Und neben der mit dem größten kriti- schen Fleiße, mit philologisch-exacter Gewissenhaftigkeit besorgten Wiedergabe des eigentlichen musikalischen Textes finden wir zur Vermittlung wahren Ver- ständnisses und richtigen Vortrages die reichsten und eingehendsten Andeutun- gen über Fingersatz, Tempo (nach dem Metronom), Tonstärke, Phrasirung, Pedal- gebrauch und Ausführung der Verzierungen und des Passagenwerkes. Es ist ein praktischer Commentar von kaum genug zu schätzendem Werthe – die Arbeit von Meistern und erfahrenen Lehrern, wie Liszt, Bülow, Ignaz Lachner, Immanuel Faißt und Sigmund Lebert. Insbesondere hat Liszt in diesem Sinne die Redaction * Hr. v. Bülow hat jüngst in Wien drei „Beethoven-Abende“ dieser Art mit größtem Glück und Erfolg veranstaltet. Ich kann es mir nicht versagen das höchst instructive Programm hier mitzutheilen: I. 1) Phantasie in C-moll von Mozart (gleichsam als Präludium und als Ausgangspunkt), um dadurch an die vor-Beethoven’sche Epoche anzuknüpfen. Es war die im Original mit der Widmung an „Madame Mozart“ versehene – die große, auch in C-moll geschriebene Phan- tasie, welche von Mozart der in vielem schon sehr „Beethovisch“ klingenden C-moll-Sona- te vorangestellt ist – man halte Beethovens Op.  10 Nr.  1 daneben! – würde vielleicht noch besser gepaßt haben. 2) Sonate pathétique, Op.  13. 3) Variationen Op.  34. 4) Sonate in Es- dur, Op.  31, Nr. 3. 5) und 6) Die beiden Sonate quasi Fantasie, Op.  27. (Es-dur und Cis-moll.) 7) Die großen, dem Finale der Eroica analogen Variationen über das Prometheus-Motiv. II. 1) Sonate in D-moll, Op.  31 Nr.  2. 2) Phantasie Op.  77. 3) Die zweiunddreißig Variatio- nen in C-moll (mit dieser wunderbaren Leistung riß Bülow alles hin. Auch Mary Krebs hat dieses staunenswerthe Variationenwerk in ihren Programmen-Cyclus aufgenommen). 4) Sonate in F-moll, Op.  57. 5) Sonate in E-moll, Op.  90. 6) Rondo Op.  129 („Die Wuth über den verlorenen Groschen“). 7) Sonate Op.  81 (les adieux, l’absence, le retour). III. 1.) Sonate in A-dur, Op. 101. 2) Sonate in E-dur, Op.  109. 3) Sonate in As-dur, Op.  110. 4) Schlußfuge aus der Sonate Op.  106. 5) Die drei und dreißig Veränderungen über einen Diabelli’schen Walzer (den einzelnen Variationen gab Bülow zur Orientirung des Publi- cums, bescheiden, feinsinnig und ohne unnützen Bilderkram oder Deutelei gewählte Ueberschriften. Er that wohl daran.) In je dritthalbstündigen Vorträgen verstand es Bülow das Publicum zu athemlos horchen- der Aufmerksamkeit zu fesseln. D. E.