Seite - 49 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

49 Jänner 1872 45 50 55 60 65 70 75 80 gar kein Ende nehmen wollten. So dröhnten der nächsten Generation von Symphoniecomponisten nach Beethoven die flüsternden Tremolo-Quinten der neunten Symphonie unheimlich genug ins Ohr, und griffen sie, um diese Geister loszuwerden, nach einem anderen Bogen Notenpapiers, zu einer Sonate, so ertönte ihnen sofort das Motiv der Sonate Op.  106 – das kühne kurze Motiv, welches wie das stolz herausfordernde Wort eines Helden klingt. (Mendelssohn und Robert Schumann, anderer zu geschweigen, haben indessen zum Glücke bewiesen daß und wo auch nach Beethoven auf dem Gebiete der Instrumentalmusik eine eigene neue und bedeutende Entwicklung zu suchen und zu finden ist.) Der gewaltig- poetische Inhalt der Beethoven’schen Musik der mittleren Epoche regte mächtig an – er ist endlich auch in den Werken der ersten Periode da, aber er tritt hier gegen die maßvolle geklärte Schönheit, ein Erbstück aus der Mozart’schen Kunst- zeit, zurück, zuweilen, wie in der A-dur- und C  dur Sonate (Op.  2 Nr.  2 u. 3), sogar gegen das Bravourmäßige und Virtuosenhafte. Vollends bestrickend wirkte die mystische Tiefsinnigkeit der späten und spätesten Werke. So kam es daß wenigs- tens ein Theil der jüngeren musikalischen Generation, und nicht eben der un- bedeutendste, auf rein falsche Fährte gerieth, und die Musik in ihrer höchsten, eigentlich für die Zukunft allein noch berechtigten, Entwicklung auf das Illustri- ren poetischer Programme, tiefsinniger philosophischer Weltanschauungen, ja zu poetisch-phantastischen Selbstbekenntnissen und Autobiographien des Compo- nisten (wie bei Berlioz) verweisen wollte, und also der Schwerpunkt der Musik außerhalb der Musik gesucht wurde. Die bekannte Frage Fontenelle’s: „Sonate que me veux-tu?“ wurde wieder gestellt, freilich aber in ganz anderem Sinne. Musik die eben Musik war und nichts weiter (wie Jean Pauls Pastor Eymann neben Kunst- gurken aus Wachs andere Gurken hatte, die wirklich aus Gurken bestanden) wurde als „bloße Formalmusik,“ als „absolute“ oder „inhaltslose“ Musik zurückge- wiesen. Als ob die Musik ihren Inhalt anderswo zu suchen brauchte als in sich selbst! Nach einem derartigen ästhetischen Glaubensbekenntniß müßte z. B. die „Schlacht bei Leipzig fürs Clavier,“ und was sonst zu solchen verschollenen Herr- lichkeiten gehört, mehr Werth haben als der ganze Händel, Bach nebst Söhnen, Mozart und Haydn zusammengenommen. Zum Glück deuten manche Symptome dahin daß wir dieses hitzige musikalische Fieber schon wieder hinter uns haben. Man kann es nicht nachdrücklich genug betonen daß Beethovens künstlerische Laufbahn von den ersten Trios bis zu den letzten Quartetten eine stetige, conse- quente Entwicklung ist,* und es wird allgemach Zeit daß wir die ewig wiederhol- ten Phrasen von „Schrankenbrechen“ und „Hinausstürmen“ dorthin werfen – wohin sie gehören. Mit dieser Erkenntniß ist uns die Freude an den Werken der * Ganz übereinstimmend heißt es in Hermann Hettners trefflicher Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts (3.  Theil, S.  499): „Oft ist versucht worden das schöpferische Wirken Beethovens in drei verschiedene Perioden zu sondern. Diese Versuche sind von Grund aus verfehlt. Bereits im ersten Beginn der erstarkten Selbständigkeit zeigt sich die überwältigende Eigenthümlichkeit Beethovens in vollster Schärfe und Klarheit, und sie bleibt unverändert die gleiche bis an sein Ende.“