Seite - 54 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

54 Jänner 1872 55 60 65 70 75 80 85 90 95 Antonius. Oefter begnügt sich Bülow allenfalls nur auf den „triumphirenden“ Ein- tritt eines Thema, auf die besondere Innigkeit einer gesangvollen Stelle u. s. w. auf- merksam zu machen – genug für den welcher solche Winke überhaupt zu verste- hen und zu befolgen vermag. Ganz besonders müssen wir Bülow das tiefe Verständniß anrechnen mit welchem er den überaus hohen Werth der sogenann- ten „Bagatellen“ begreift und darlegt, denen bisher (wunderbarer Weise) ihr be- scheidenes Aushängschild in ihrem Credit schadete. Hier ist jedes Wort Bülows Gold, und die Andeutungen wie gerade von diesen kurzen Tondichtungen aus sich das Verständniß der letzten Sonaten, der letzten Quartette öffne, sind überaus wichtige Fingerzeige. Aber auch als kleine Kunstwerke genommen enthalten diese sogenannten „Bagatellen“ Dinge ersten Werthes, und jene die mit der Opuszahl 119 bezeichnet sind, können überdieß ganz so wie etwa Robert Schumanns „Davidsbündlertänze“ oder sein „Carneval,“ nach einander in einem Zuge fort- gespielt werden, wo sich dann die einzelnen Juwelen zum blitzenden Diadem zu- sammenreihen. Es ist zu erwarten daß durch diese Gesammtausgabe auch der Ge- winn erzielt werden wird daß sich die Pianisten nicht, wie bisher, auf einige stets wiederholte Sonaten beschränken, sondern auch andere, bisher zum Theil ganz unverantwortlich vernachlässigte, beachten werden. Zu diesen gehören, neben an- derm, die reizende Sonate Fis (Op.  78), die wundersame, in Leidenschaft auf- lodernde und sich so süß beschwichtigende zweisätzige in E-moll (Op.  90), die höchst merkwürdige Phantasie Op.  77, die uns recht eigentlich, wie kein anderes Stück, den am Clavier improvisirenden und schaffenden Meister in einem geisti- gen Porträt vor Augen führt: wie er zum Anfang, gleichsam prüfend, über die Tasten hinfährt, wie sich ihm Tongestalten nahen, die er faßt, wieder entläßt, wie sich diese Bildungen („ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“) nach stür- mischen und calmirenden Momenten endlich zu einem bestimmten Thema ver- körpern, das der Meister nun variirt, aber in Variationen die ganz anders sind als seine sonstigen gearbeiteten, die ganz wie Inspirationen, wie Improvisationen des Momentes aussehen, und wie der Meister endlich, da gerade alles recht athemlos zauberhaften Harmonien und Uebergängen horcht, plötzlich (ordentlich brüsk) abbricht: „jetzt habt ihr genug, geht!“ Aeußerst wichtig ist der von Bülow gegebene Commentar bei der großen B-dur-Sonate Op.  106, bei den Diabelli-Variationen, bei der Sonate Op.  111. Man darf sagen daß sich die Behandlung und mit ihr die Bedeutung dieser gewaltigen Werke vielen erst hier erschließen wird. Haben wir uns nicht an der Schlußfuge der großen B-dur-Sonate, als im Irrgarten dieser Contrapunktik umhertaumelnde Cavaliere fast alle zehn Finger weggespielt, und sagten wir nicht, wie jener große Kirchenlehrer von Persius sagte: „si non vis intelligi non debes scribere?“ Und wird uns nicht mit den rein technischen Andeutungen Bülows ein Ariadne-Faden in diesem Labyrinth gereicht, und merken wir nicht daß der Fehler bisher ganz an uns lag? Diese letzten Sonaten Op.  106, 109, 110 und 111 führen uns freilich auf geistige Höhen, wo Leuten die unten in des Thales Dampf und Rauch behaglich meinen sie leben auch, der Athem ausgehen kann. Würden wir je glauben: das Pianoforte, dieser Klappertastenkasten, könne so wunderbar singen wie im Fis-moll Adagio der Sonate Op.  106, wie in dem Canta- bile-Satze der As-dur-Sonate – Stücke in welchen uns Beethoven von den tiefsten