Seite - 55 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

55 Jänner 1872 100 105 110 115 120 125 130 135 und höchsten Schmerzen seiner Seele erzählt, Schmerzen die hier bis zur höchsten geistigen Höhe, ja bis zur Heiligkeit verklärt sind?! Vollkommen Recht müssen wir Bülow geben wenn er auf die schier unergründliche Bedeutung der Diabelli-Varia- tionen hinweist. Das war nun, wie Schindler erzählt, eine Arbeit die Beethoven „ungewöhnlich belustigte.“ So sehen also „Beethovens Belustigungen“ aus. (Wir denken dabei unwillkürlich an „Rösels Insectenbelustigungen.“) Und recht brav ist es von Bülow daß er den artigen Walzer Diabelli’s in Schutz nimmt. Freilich ist es an sich kein Stück von auch nur einiger Bedeutung (Beethoven nannte es scherz- weise den „Schusterfleck“), aber es ist ein Archimedespunkt, von dem aus Beet- hoven eine Welt aus ihren Angeln hebt. Und hätte gar nichts darin gelegen, hätte Beethoven wohl etwas herausholen können? Nur eines wünschen wir: daß Bülow bei einer künftigen Auflage eine Stelle streiche, die ihm nur in nervösester Gereiztheit aus der Feder geschlüpft sein kann: das bittere Wort gegen Ulibischeff bei Gelegenheit des Rondo Op.  129. Der einsei- tige, gegen alles andere verblendete und blinde Anbeter Mozarts hat seine Sünden reichlich durch den Sturm gebüßt welcher sich, wegen seines leidigen Buches Beet- hoven et ses glossateurs, über seinem Haupte zusammenzog. Der von ihm handelnde Artikel in Féti’s „Biographie universelle des Musiciens“ gibt darüber merkwürdige und seltsame Aufschlüsse. Ulibischeff ruhe in Frieden! Wenn Goethe von der „Theilnehmung“ meint sie sei anfangs einseitig, so ist es die Theilnehmung des begeisterten Dilettanten immer. Das gilt nicht allein von den Mozart-Anbetern, sondern auch von den Beethovenern, den Wagnerianern u. s. w. Dieser Zug ist auch für Ulibischeff bezeichnend – aber er hat über seinen Mozart auch manches wahrhaft geistreiche Wort gesagt, manches geistreiche Blatt geschrieben. Oder ist sein Mozartcult verdammlicher als z. B. Berlioz’ Mozarthaß, wo wir denn freilich offen sagen daß in der von Berlioz verhöhnten „Entführung aus dem Serail“ in der kleinsten Nummer mehr Musik zu finden ist als aus dem ganzen Berlioz, und brächte man seine Opera omnia unter die Brahma’sche Presse, je wird herausge- quetscht werden können. Danken wir vielmehr Gott daß wir Schiller und Goethe, wie auch Mozart und Beethoven haben! Mit Recht leitet Hermann Hettner das musikalische Capitel seiner Literatur- geschichte des achtzehnten Jahrhunderts (3.  Theil, Cap.  9) mit den Worten ein: „Die classische Zeit der deutschen Dichtung ist auch die classische Zeit der deut- schen Musik. Dieselbe Gedanken- und Stimmungswelt, dieselbe gesteigerte Ge- fühlsinnerlichkeit, welche ihren dichterischen Ausdruck in Goethe und Schiller fand, fand ihren musikalischen Ausdruck in Mozart und Beethoven.“ Es ist also, möchten wir sagen, nur eine natürliche Consequenz wenn die Verlagshandlung, welche uns einst Goethe und Schiller gebracht, uns nun auch Mozart und Beet- hoven bringt. Erläuterungen 18f. „über den Vortrag Beethoven’scher Clavierwerke“] Adolf Bernhard Marx, Anleitung zum Vortrag Beethovenscher Klavierwerke, Berlin 1863. ◼ 52 Teniers’schen und Breughel’schen] David Teniers d.  J. (1610–1690) und Pieter Bruegel d.  Ä. (um 1525–1569), niederländ. Maler. ◼ 77 „ihr naht … Gestalten“] Goethe, Faust  1, 1. ◼ 89f. jener große Kirchenlehrer … „si non vis