Seite - 58 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

58 Jänner 1872 70 75 80 85 90 95 100 105 110 In Wien entfaltet der „Wiener Cäcilien-Verein“ ein so ernstes, tüchtiges Streben, daß wir ihm unsere volle Aufmerksamkeit und Sympathie zuzuwenden nicht um- hin können. So wirkte das am 28.  Jänner Abends in der Piaristen-Kirche veranstal- tete „geistliche Concert“ (mit freiem Eintritt) nicht bloß künstlerisch erfreulich, sondern geradezu erhebend und erbauend. Motetten von Palestrina und Vittoria, geistliche Lieder von Joh. Wolfgang Franck und Michael Prätorius, dazu neuere Werke von Beethoven, Mendelssohn und A.  G. Ritter (wohl angebracht, damit man dem Vereine nicht einseitiges Archaisiren vorwerfe!) und Orgeltoccaten des alten Orgelriesen J.  S. Bach. Mir fiel während der Toccate in D-moll seltsamer Weise der mythische Amphion ein, wie er mit den Klängen seiner Zither die Mau- ern Thebens baut, und ich fragte mich, was wohl herausgekommen wäre, wenn Amphion statt seiner Zither so Orgel gespielt hätte, – ich denke: die Stephans- Kirche oder der Kölner Dom. Das letzte Orgelstück, eine geistliche Ouverture von Otto Nicolai über den Choral: „Ein’ feste Burg“, im Orgelarrangement von Liszt, fiel gegen die großen Bach’schen Monumentalwerke bedenklich ab, auch der Hymnus von A.  G. Ritter, obwohl er den wohlgeschulten, soliden und wohlmeinenden Musiker verräth, ver- blaßte neben der geistlichen und geistigen Kraft der älteren Meister, – er ist stark von jener Sentimentalität angekränkelt, wie sie z. B. auch in den geistlichen Musi- ken von Spohr zu finden; eine christlich thuende Schönseligkeit, welche wir der Tante „schöne Seele“ (aus „W.  Meisters Lehrjahren“) bestens empfohlen haben wollen; uns für unseren Theil hat diese lauwarme, gezuckerte musikalische „Milch der frommen Denkungsart“ nie munden wollen. Wie rührend kindlich, wie zum Herzen sprechend klang daneben das Weihnachtslied des alten Prätorius! Sehr anziehend war es, Vittoria’s „Jesu dulcis Vittoria“ neben Palestrina’s „O salutaris hostia“ (beide Stücke trefflich ausgeführt) zu hören. Vittoria steht neben Palestrina ungefähr wie Franz Schubert neben Beethoven, – „er ist neben ihm ein Mädchen- charakter“, meinte einst Rob. Schumann von Schubert, – das Wort würde auch auf Vittoria passen. Der wahrhaft religiöse Zug des geistlichen Liedes von Beethoven (das erste der Sammlung) wurde mir kaum je so klar wie diesmal; der große Meis- ter betet hier wirklich „im Geiste und in der Wahrheit“. Auch auf Mendelssohn, von dem wir eine der Elias-Arien hörten, ist noch ein Segensblick der alten großen Meister gefallen. So bot das geistliche Concert eine Fülle des Schönen, freilich des sehr ernst Schönen, welches vom Hörer Liebe, Aufmerksamkeit, Antheil verlangt. Das Ganze macht dem artistischen Leiter Herrn Prof. Ernst Stoiber alle Ehre und die Ausfüh- renden (Frau Ida Gaßebner, die Fräulein Kirnberger, Tomsa und Uetz, die Herren Heinrich Gaßner, v. Thann und Dr. Mühlberger, – dazu ein wohlgeübter Chor und die Herren Dr. Karl Hausleithner und Franz Urban als Orgelspieler) erwarben sich um das Gelingen der vorzüglichen Productionen wahre Verdienste. Die Liebe und der Eifer der Mitwirkenden glich manche kleine Unebenheiten aus, wie sie bei sehr gemischten Kräften wohl vorkommen müssen. Anerkennen müssen wir aber ganz besonders den egalen, feinen und sicheren Vortrag der beiden altitalienischen Motetten. A. W. Ambros.