Seite - 61 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

61 Februar 1872 35 40 45 50 55 60 65 70 75 zu füllen, ist ohne Zweifel ein recht guter. Die Componisten danken ordentlich dem Himmel, die Symphonie mit ihren observanzmäßigen vier Sätzen, wo ihnen dieser Beethoven doch das Handwerk verdorben hat, links liegen lassen zu können. Im Grunde ist aber die Suite doch nur die ältere Schwester der Symphonie und vollends Essers Suite könnte beinahe eben so gut „Symphonie“ heißen; sie legitimirt sich eigentlich nur dadurch zu ihrem Titel, daß sie sich ununterbrochen mit dem feierlichen, vielkünstlich gewobenen Talar der Contrapunktik drapirt; sie gleicht einer modernen Weltdame, die in ganz liebenswürdiger Weise mit etwas Gelehr- samkeit coquetirt und ihrem jungen Gesichte zum Trotz die „gute alte Zeit“ preist. Die echte, alte Suite ordnet ihr Material etwas anders, sie reiht nach einer präludien- oder toccatenartigen, oft weit ausgesponnenen Einleitung Tänze (ihrer Zeit) in einer größeren Anzahl kurzer Sätzchen an einander: Allemande, Courante, Passepied, Sarabande u. s. w. Sie war im Grunde eine contrapunktisch veredelte Unterhaltungsmusik und eigentlich, wie so ziemlich alle ältere Instrumental musik, fürs Orchester übersetzte Orgelmusik, wie denn eine große, ja die größere Anzahl von Suiten aus der Periode Händels und Bachs (und früher) für Tasteninstrumen- te, das ist für Orgel oder Klavier geschrieben ist. Der Organist mochte zu eigener und fremder Unterhaltung wohl auf seinem mächtigen Instrument oder auf dem kleineren „Positiv“ oder „Regal“ einige Tanzstückchen herunterspielen; aber als einem Mann der Kirche und des doppelten Contrapunktes wurde ihm unter den Händen aus der ursprünglich wohl ganz einfach gewesenen Tanzmelodie ein klei- nes contrapunktisches Cabinetstück oder er „colorirte“, d. h. verschnörkelte und verkräuselte die einfachen Tongänge des Originals und gewohnt zu präludiren, sendete er etwas Toccatenartiges, Fugenhaftes voraus, wo er zudem dem Contra- punkt ein ausgiebigeres Opfer bringen und sich von dieser gestrengen Gottheit gleichsam die Licenz für das folgende weltliche Tanzwesen holen konnte. Wer die Orgeltabulaturbücher der beiden Schmidt u. A. kennt oder die handschriftlichen Klavier- und Orgelsachen Frobergers (in der k. k. Hofbibliothek), wird deutlich erkennen, daß der Ursprung der solid ausgearbeiteten Suite in solchen Anfängen zu suchen ist. Die Suiten von Händel und die sogenannten englischen und franzö- sischen Suiten von J.  S. Bach sind und bleiben wohl das Höchste, was diese „galan- te“ Contrapunktik je hervorgebracht. Zu Mozarts Zeit war die Suite schon außer Mode. Doch liebte Mozart seinen Händel zu sehr und die Götter hatten ihm eine leicht schaffende Hand für jede erdenkliche Musikform geschenkt; er versuchte also auch die Form der Suite, jene „Ouverture dans le stile Hændel“ ist der Anfang dazu, – aber es blieb eben beim Anfang und das Werk liegen. Was Mozart auch auf diesem Gebiete hätte leisten können, zeigt nicht nur die Ouverture, sondern auch das Albumblatt jener neckisch-anmuthigen Gigue. Dann blieb die ganze Gattung in Vergessenheit, bis das wieder mit lebhaftem Interesse aufgenommene Studium Bach’scher und Händel’scher Werke die Aufmerksamkeit darauf lenkte. Franz Lachner griff mit großem Glücke darnach, er respectirt die Tradition, daß die Suite eine Folge ver- edelter Tanzstücke sei; eine Tradition, welche Esser in seiner A-moll-Suite ganz hat fallen lassen, und es ist ein eigener Zufall, daß Bargiels drei Tanznummern, die wir nach Essers Stück zu hören bekamen, eigentlich eher wie Rudimente einer Suite