Seite - 63 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

63 Februar 1872 125 130 135 140 145 150 155 160 165 Herrn Walters trefflicher Vortrag der Arie des Pylades weckte den verzeihlichen Wunsch, wieder einmal die ganze „Iphigenia in Tauris“ an der ihrer würdigen Stätte, das heißt im k. k. Hofoperntheater zu erblicken. Wir werden am Ende doch immer wieder zur Gluck’schen Oper zurückkehren müssen, um zu lernen, was höchste dramatische Wahrheit verbunden mit einfachster und edelster musikali- scher Schönheit ist. Außer dem „Schwanengesang“ der Symphonie brachte uns die Woche noch zwei andere große Werke des Meisters, welche die gleiche Bezeichnung verdienen, im k. k. Hofoperntheater die „Zauberflöte“ (in ihrer blendend prächtigen Ausstat- tung ein förmlicher „praktischer Anschauungsunterricht“ in der Aegyptologie) und das „Requiem“, das Werk, welches Mozart, wie einst Raphael seine „Trans- figuration“, unvollendet hinterlassen mußte, weil der Tod beide Meister mitten in der Arbeit abrief, welches dann, gleich der „Transfiguration“, ein Schüler vollende- te, nur daß leider Süßmeyer kein Giulio Romano war. Aber der Urbinate war glücklicher als Mozart; an sein letztes Werk hingen sich nicht zuerst kindische Schauergeschichten und er fand später keinen aberweisen Criticus, welcher etwa der staunenden Welt erklärt hätte, die „Transfiguration“ sei eine gesudelte Fäl- schung. Man kann sich, wenn man Gottfried Webers geistloses und selbstgefälli- ges Gerede über das Mozart’sche Requiem liest, einer Regung des Unwillens nur schwer enthalten. Als ob jemand, der nicht Mozart war, im Stande gewesen wäre einen Satz zu schreiben wie das „Recordare“ oder Harmoniewendungen wie jene bei dem Chore „oro supplex“. Als ob diese Kyrie-Fuge, wo Gottfried Weber uns etwas Neues zu bieten sich einbildet, wenn er uns Händel’sche Stücke vor die Nase hält, die über gleiche Themen componirt sind, als ob diese Fuge in den feineren, freilich nur dem kundigen Auge kenntlichen Zügen nicht dieselbe Hand verriethe, welche die Schlußfuge der C-moll-Phantasie geschaffen! Es ist so schwer nicht, zu unterscheiden, wo und was Süßmeyers ungeschickte Hand hineingemalt; z. B. die rohen Posauneneffecte in „Lacrimosa“ und auch gleich in der ersten Nummer. Mit welcher priesterlichen Weihe Mozart die Posaune singen zu lassen versteht (wahr- lich zu singen), wie mild, feierlich und machtvoll, das zeigt z. B. die „Zauberflöte“. Süßmeyer beschlug augenscheinlich nur um des „Effectes“ willen das Requiem an vielen, ganz ungehörigen Stellen so grobschmiedmäßig mit Posaunenblech. Hätte Süßmeyer in jenem weltbekannten Briefe: „Mozarts Compositionen sind so einzig u. s. w.“ die einfache, reine Wahrheit gesagt – la verité, toute la verité, rien que la verité – statt Dreiviertel-Wahrheiten und Fünfviertel-Wahrheiten auszubieten, so wäre viel kritische Tinte und viel Verdruß zu ersparen gewesen. Wie richtig be- urtheilt doch Zelter in seinem Briefwechsel mit Goethe mit wenigen Worten das Werk! Man merke darin, sagt er, überall die Leidenschaftlichkeit des Theatercom- ponisten neben den letzten Zügen einer alten, großen Tonsetzerschule. Das Merkwürdige bei der Sache ist, daß genau dasselbe von einem anderen, dem Mozart’schen um mehr als ein Jahrhundert vorangehenden Requiem gilt. Francesco Caletti-Bruni, insgemein Cavalli genannt, dieser wahre und echte Vater des zu- gleich dramatisch-wahren und musikalisch-schönen Opernstyls, schrieb als Greis für sich selbst ein Requiem nach venezianischer Art für zwei Chöre, das nach sei- nem 1674 erfolgten Tode in der Kirche S.  Marco zu Venedig (deren Maestro di