Seite - 64 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

64 Februar 1872 170 175 180 185 190 195 200 205 210 capella er gewesen) aufgeführt wurde. Er ist darin gleichsam der dramatisch und leidenschaftlich gewordene Palästrina, die „Leidenschaftlichkeit des Operncom- ponisten“ verbunden mit den „letzten Zügen einer alten großen Tonsetzerschule“. Ja, wunderbar genug, man fühlt in einzelnen Stellen etwas wie eine Ahnung des Mozart’schen Werkes. Wie Cavalli schrieb auch Mozart sein Requiem eigentlich für sich selbst. So eine Musik kann nur dichten, wem der Tod schon die bunten, lachenden Bilder des Lebens auslöscht und ihm mit der anderen Hand nach den unbekannten Regionen hinweist, von denen heilige Schauer herüberwehen. Und da schaudert die Creatur: „Oro supplex et proclinis, cor contritum sicut cinis.“ Eine Stelle wie „ingemisco tamquam reus, culpa rubet vultus meus, supplicanti parce Deus“ kann in solchen Tönen wahrlich nur singen wer mit aller Kraft empfindet, was sie sagen. Wer kann alle diese Züge, welche die Seele an der Wurzel packen, einzeln nennen! Wenn im „dies iræ“ die Bässe unbarmherzig immer wiederholen „quantus tremor est futurus“ die drei höheren Stimmen aber immer ausweichen wollen: „dies iræ, dies illa“, bis sie, ohne Kraft länger zu widerstehen, in gesteigertem Entsetzen einstimmen: „quantus tremor est futurus“, so ist das ein Zug, dessen nur fähig war, wer vorher als dramatischer Componist die Sprache aller Regungen der Seele voll- kommen zu sprechen gelernt. Und welche Tonmalerei im „Lacri-mosa!“. Dieses aufsteigende „qua re-sur-get ex fa-villa ju-di-can-dus homo“ und nun das schreckli- che Fortissimo auf „reus“; wahrlich das ist gemalt, wie es Michel Angelo in seinem jüngsten Gericht gemalt hat. Da soll nun der süße Süßmeyer die Hand dabei gehabt haben! Bekanntlich sang Mozart, halbsterbend, dieses „Lacrimosa“ mit drei musikalischen Freunden, folglich kann es Süßmeyer doch nicht erst nach dem Tode des Meisters geschaffen haben! Aber das „Benedictus“ sagt freilich in jeder Note: „ich bin Süßmeyers“ und dieses geistige Eigenthum wollen wir ihm gerne lassen. Seltsam und merkwürdig ist es, daß Ulibischeff, der sonst vor jeder Note Mozarts gleich einem die Anbetung Kaut-Tau verrichtenden Bewohner des „himmlischen Reiches“ mit der Stirne neun Mal an den Boden schlägt, die unbeschreiblich schönen, rührenden Soli nach dem „Tuba mirum“ ganz und gar verwirft und sie bitter tadelt. Enthusiastische Dilet- tanten, wie jener russische Musikfreund, gleichen ihren erwählten Lieblingen ge- genüber zuweilen irgendeinem asiatischen Despoten, der einen Günstling mit ver- dienten und unverdienten Gnaden bis zum Uebermaß überschüttet, zwischendurch aber einmal, von einer Sultanslaune angewandelt, ihm eine Bastonade appliciren läßt, um ihm bemerkbar zu machen, wer denn endlich und eigentlich doch der Herr sei. Mit diesem Requiem aber geht es zum Glücke wie mit der Ilias, wie mit der Dresdener Madonna Holbeins, wo man es am Ende den grundgelehrten Leu- ten überläßt, nach Aorist-Formen zu horchen oder Pinselführungen nachzuspü- ren, und man sich, ohne weiter auf das Dociren und Zanken hinzuhören, an der ewigen, unvertilgbaren Schönheit der Werke nach wie vor erfreut und erbaut. Und so hat man denn auch dem heimgegangenen großen Dichter, welcher die Musik und vor allem Mozart so sehr liebte, kein würdigeres Todtenopfer bringen können als gerade Mozarts Requiem. Die ganze Feier ehrt, wie den großen Dichter, so auch die Gesellschaft der Musikfreunde, welche diese Feier veranstaltete. Die Aufführung der Mozart’schen