Seite - 83 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

83 März 1872 40 45 50 55 60 65 70 75 80 Chore. Aber kein Glaube an das, keine Liebe zu dem, was hier componirt worden, hat das Werk geschaffen; als Musik bewundernswerth, als Kirchenmusik, gleich der übrigen Kirchenmusik Cherubini’s, ostentiös-höfischer Prunk. Der Einfall, das Weltende durch einen Tamtam-Schlag anzukündigen, ist so roh-bizarr, daß er verdiente, von Berlioz zu sein. Auch dieser hat bekanntlich ein Requiem compo- nirt. Man darf es mit seinen monströsen Einfällen neben anständiger Kirchen- musik nicht nennen. Weil Berlioz sieht, daß andere Leute, wenn sie beten wollen, in der Einfalt ihres Herzens die Hände falten und ruhig zum Himmel emporbli- cken, so schlägt er, um seine Andacht auszudrücken, mit Fäusten um sich und schneidet Karaiben-Gesichter. Etwa zehn Jahre vor diesem Riesenopus erschien ein Requiem in C-moll von dem hahnbüchenen, aber tüchtigen W.  J. Tomaschek in Prag, glühendem Bewun- derer Glucks, Verehrer Mozarts, heimlichem Feind Beethovens und offenem Feind C.  M. v.  Webers (übrigens auch einem der „böhmischen Juristen, welche sich der Musik widmen“, denn gleich dem alten Adrian Willaert rühmte er sich noch als Greis gerne seiner einstigen juridischen Studien). Das Werk erschien bei Marco Berra in Prag, ich könnte vielleicht mit besserem Recht sagen: „es versteckte sich bei Marco Berra in Prag“. Wer ein Geheimniß recht tief bewahrt wissen will, brin- ge es zu Papier, setze es in Musik und lasse es bei irgendeinem Prager Musikver- leger drucken. So nahm denn die Welt auch von Tomascheks Requiem kaum eine Notiz, obgleich es zu den bedeutendsten Werken neuerer Kirchenmusik gehört. Im contrapunktlichen Gefüge das Werk einer Meisterhand, wie man sie nicht eben häufig finden dürfte, ist es im Ausdruck voll Würde und Kraft und nur die Mozart’sche Charis fehlt, um es in dessen Nachbarschaft rücken zu dürfen. Selbst in Prag gehört eine Aufführung zu den Seltenheiten. Der Componist hatte sich dem gleichzeitigen Prager Musikantenthume mit schroffem Selbstbewußtsein ge- genübergestellt, seine salse und nervose dicta verschonten niemanden und wie ein mißlauniger Tiberius auf Capri hauste der alte Junggeselle in seiner eleganten Wohnung in der abseitigen, stillen Thomasgasse, nur von seinen Schülern besucht, die freilich für ihn lebten und starben und unter denen sich Leute fanden wie Joseph Dessauer, Alexander Dreyschock, Julius Schulhoff. Indessen kam ein neuer Musikfrühling, der uns Mendelssohn, Gade, Hiller, Stephan Heller, Schumann, Henselt u. s. w. brachte. Kein Wunder, wenn auch Tomascheks vortreffliche Eklogen für das Pianoforte, seine Lieder zu Goethe u. s. w. vergessen wurden und jenes Requiem beinahe wie ein großes Trauerdenkmal auf seinen begrabenen und verschollenen Compositionen dasteht. Vielleicht erinnern sich 1874 die Prager, daß des Mannes hundertster Geburtstag sein wird. – Ich übergehe einige Deos minorum gentium, wie Gänsbacher, Wittassek u. a. m., um einen flüchtigen Blick auf die neueste Zeit zu werfen. Ein Requiem von Schumann ist ziemlich unbeachtet ge- blieben; im Grunde stand ihm auch die ganze Sache ziemlich fern, er mußte sich aus künstlerisch-ästhetischen Gründen erst hineinreflectiren. Des höchst acht- baren Friedrich Kiel Composition gestehe ich zur Zeit noch nicht zu kennen; ein Requiem von Bernhard Scholz, das bei Breitkopf und Härtel in Partitur erschie- nen, auch schon da und dort mit ehrenvollem Erfolge aufgeführt worden, ist das gediegene, jeder Achtung werthe Werk eines sehr tüchtigen, sehr soliden Musikers,