Seite - 85 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

85 März 1872 130 135 140 145 150 155 160 165 170 mögliche künstlerische Reflexion kann ihn nicht ersetzen. Wenn nun aber Lach- ner, „von Jugend auf an diesen Klang gewöhnt“, den Traditionen seiner Kirche hier volle Rechnung trägt, so möge man darüber nicht unbemerkt lassen, wie er sein Werk als großes Ganzes ausbaut und gruppirt. Der Ritualtext der Todtenmesse hat das Sanctus, Pleni, Osanna und Benedictus mit jedem anderen gemeinschaftlich – die vorhergehenden Sätze sprechen von Tod und Grab und Gericht und das nach- folgende Agnus leitet mit seinem „dona eis requiem cum sanctis tuis in æternum, quia pius es“ zu den ersten Bildern zurück. In meisterhafter, man darf sagen nahezu dramatischer Disposition leitet Lachner mit sicherer Hand aus der Nacht der ers- ten Sätze seines Requiems zu Höhen ewigen Lichtes, – im Sanctus sind wir unter anbetende Schaaren von Seligen versetzt, in dem kurzen Allegro „Pleni sunt coeli et terra gloria tua, Osanna in excelsis!“ blitzt ein Moment höchster Seligkeit auf, dann senkt sich Alles; das Agnus führt uns wieder in dämmernde Tiefen, aber jenes ewige Licht leuchtet nach und mildernd und tröstend in die Tiefen hinein. Mozarts Requiem kann eine analoge Anlage schon deßwegen nicht haben, weil seine letz- ten Nummern Süßmeyer’sches Flickwerk sind, – in dieser Beziehung wüßte ich überhaupt kein anderes Requiem neben dem Lachner’schen zu nennen. Die ersten Tacte beginnen, wir athmen sofort Weihrauchduft. Wir finden uns auch sofort, ohne daß Mozart’sche Reminiscenzen oder auch nur Styleigenthüm- lichkeiten da wären, in eine dem ersten Satze Mozarts ganz analoge Stimmung versetzt. Wir werden indessen auch nicht verkennen, daß bei Mozart das contra- punktische Gewebe viel feiner ist (z. B. die gleichsam herabrieselnden Sextaccord- gänge der Geigen beim „te decet“), auch das Mozart’sche oder eigentlich Händel’sche Doppelthema der Kyrie-Fuge hat eine weit ausgeprägtere, bezeichnendere Physio- gnomie als bei Lachner – aber gerade aus dem ungefällig Trockenen (das in dem einen Thema mit den Achteltriolen beinahe bis ins Ungefüge geht), aus dem Um- stande, daß Dux und Contrasubject mehr ein musikalisch fixirter Ausruf als ein wirkliches, cantabel gebildetes Thema sind, hat Lachner einen ganz merkwürdi- gen, geradezu dramatischen Effect zu ziehen gewußt. Sein Kyrie wird gerade dadurch zu dem angstvollen Drängen einer Menge, die „aus tiefer Noth“ durch- einander- und emporschreit. Es ist erstaunlich, daß er sich damit die Wirkung des „Dies irae“ nicht vorweggenommen und verdorben. Der Anfang des Letzteren, frappant mit dem übermäßigen Dreiklang (eigentlich mit dem Sextaccord c, as, e-[,] c-), ist großartig und charakteristisch, ohne, wie die meisten Componisten thun, sofort mit Donnern, Krachen und Zersplittern und dem ganzen obligaten Weltuntergangsspectakel loszulegen. Das ungeheure Bild „mors stupebit et natura“ malt Lachner in überraschender Mächtigkeit hin, – überhaupt ist bei diesem Satze der dramatische Componist Lachner dem Kirchencomponisten Lachner sehr nützlich gewesen. „Recordare Jesu pie“ – ein rührend schönes Altsolo, das kleine Vorspiel dazu (gleich mehreren folgenden) überaus edel, in gebundenem Styl (Fräulein Gindele sang das Solo sehr schön); das „Confutatis“ mit dem contrasti- renden „voca me“, das „oro supplex“ (wo uns der Chor das schönste sotto voce hören ließ) erinnert in seiner allgemeinen Färbung und Stimmung (nicht in den Details) an die Disposition desselben Satzes bei Mozart, – Besseres zu finden dürfte auch in der That schwer sein. Das edle, ausdrucksvolle Lacrimosa wird von der Triolen-