Seite - 87 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

87 März 1872 220 225 230 235 240 245 250 255 260 Kärnthnerthortheater die Aufführung seines „Freischütz“. Er hatte im vorher- gehenden Jahre die epochemachende Oper mit kaum erhörten Erfolge auf der Berliner k.  Hofbühne zu Gehör gebracht, hiernächst am Orte seines amtlichen Wirkens, in Dresden, und auf der Reise von Dresden nach Wien dirigirte er die Oper in Prag, seinem früheren Aufenthaltsort, wo ihn Freunde und Verehrer mit Begeisterung begrüßten und höchstens Tomaschek, der die kühl-achtungsvolle Aufnahme seiner „Seraphine“ noch immer nicht verschmerzen konnte, bei der „Freischütz“-vorstellung statt des Eises, womit sich Andere in den Zwischenacten zu erquicken pflegen, etwas Gift und Galle verschluckte. In Wien staunte Weber über das, was er zu hören, noch mehr aber über das, was er zu sehen bekam. Die Kräfte durften zwar vorzüglich heißen (die Grünbaum, der Bassist Forti, der Tenor Haitzinger u. s. w.) und das Orchester war ausgezeichnet; aber Weber fand über verfehlte Tempi, über den Ausfall der Ariette „Trübe Augen“ u. s. w. sehr zu klagen. Was er sah, brachte ihn vollends außer Fassung. Man hatte aus dem Textbuche nicht mehr und nicht weniger ausgemerzt, als – den Samiel, den Eremiten und die Freikugeln!! Die beiden Personen aus „Schicklichkeitsrücksichten“. Der Teufel hatte zwar sicher bei dem Theater zuweilen sein Spiel (bei welchem Theater hätte er es nicht!?), aber daß er sich leibhaft, mit Hörnern, Schwanz und Klauen zeige, verstieß gänzlich gegen das Decorum. („Faust“ wurde nicht aufgeführt, sonst wäre auch Mephisto „gestrichen“ worden.) Dem Eremiten stand der entgegengesetzte Grund im Wege – seine allzu respectable Heiligkeit. Die Freikugeln fielen aus, weil auf den beiden Wiener Hofbühnen nach damaligem Theaterregulativ kein Feuer- gewehr angewendet werden durfte. An Stelle der Freikugeln traten Freibolzen, da aber Kaspar unmöglich angesichts des Publicums sieben solche Bolzen häm- mern und schmieden und spitzen konnte, so wurde angenommen, sie liegen in der Wolfsschlucht in einem hohlen Baum, woher sie Kaspar Stück nach Stück heraus- holte – eins, zwei, drei u. s. w. – Weber war, wie gesagt, außer sich. Seine persönli- che Anwesenheit und Verwendung brachte die Sache ins Gleiche, auch in diesem Sinne wurde der Tag seiner Leitung der Oper ein Epochentag. Am fünfzigjährigen Gedächtnißtage hätte Weber sicher keine Ursache gehabt zu klagen, die vortreffli- che Dustmann als Agathe, die anmuthige Minnie Hauck als Aennchen würden sich seines vollen Beifalls erfreut haben, und so that jeder mit aller Pietät sein Bestes. In der ursprünglich beabsichtigten Besetzung traten einige Aenderungen ein, den Kilian sang Herr Regenspurger, den Max Herr Labatt, den Kuno Herr Lay. Sehr ergötzte sich das Publicum an den liebenswürdigen Brautjungfern Ehnn, Rabatinsky und Gindele. In der Wolfsschlucht fiel Manches von der früheren Ein- richtung aus, z. B. der natürliche Wasserfall mit seinem zudringlichen Rauschen. Leider geht es bei den Wolfsschlucht-Reformen fast überall so, daß man Satan durch Beelzebub austreibt – will sagen: ein Spectakel tritt an Stelle des anderen. Ueber das Orchester unter des vortrefflichen Herbeck Leitung müßten wir nur das oft Gesagte wiederholen – diesmal war’s zudem ein Ehrenabend. Die Ouverture erregte denn auch eine unbeschreibliche Sensation, das ganze Orchester erhob und bedankte sich. Als Einleitung des Ganzen diente die Cantate „In seiner Ordnung schafft der Herr“ – dem Texte nach ein gutgemeinter Versuch des schönseligen Rochlitz die Art der alten Bach-Cantate „ästhetisch zu veredeln“. Musikalisch lag