Seite - 93 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

93 März 1872 90 95 100 105 110 115 120 125 130 Fast möchte ich sagen, sie sei das Schönste, was Berlioz je geschaffen, doch muß man davon die Einleitung des Hirtenduetts und den Schluß mit dem grobmateri- ellen Effect des durch eine Anzahl von Pauken und Paukenschlägern bis zur Täu- schung nachgeahmten Donners abrechnen. Der zwischen diesen beiden Grenz- punkten liegende Satz aber erinnert in seiner wunderbaren Färbung ganz direct an Beethovens Pastoral-Symphonie und zwar an deren zweites Stück, die „Scene am Bach“. Hier wie dort das träumerische, glückselige Versenken in das Leben der Natur. Aber während bei Beethoven mehr das Wehen und Weben des schaffenden Naturlebens markirt ist, das Lautwerden von tausend Frühlingsstimmen, das Auf- sprießen von tausend Keimen – ist es bei Berlioz mehr stille Ruhe, ein wohliges Aufathmen, es lagert ein unendlicher Friede über dem Ganzen. Einmal singt sogar die Nachtigall und die Wachtel der Pastoral-Symphonie einige Töne herüber. Berlioz wollte mir einmal einreden, er habe bei den daktylischen Schlägen der Oboe gar nicht an die Wachtel gedacht – ich glaube es ihm aber doch nicht. Der Hinrichtungsmarsch kann als vielleicht bedeutendstes Muster des musikalisch Grauenhaften und Entsetzlichen gelten. Nach den ersten dumpfen und gleichsam erstickten Accenten tritt das gewal- tige Thema hart und unerbittlich im Unison auf – die Art, wie Berlioz es fort- und weiterführt, ist jeder Bewunderung werth. Ich erinnere nur an das Gegenmotiv im Fagot, in dessen höchster, gepreßt klingender Lage, wo es so schauerlich wie die Stimme des Todes selbst dazwischentönt, oder an die folgende Stelle, wo zu dem Hauptthema, diesmal in trockenen Pizzicatoschlägen der Geiger, das plappernde Zwiegespräch der beiden Fagotte geradehin grausenhaft wirkt, bis der ganze Chor der Blechinstrumente in schrecklichem Glanze mit einem zweiten imposanten Marschmotive hervorbricht. So ist es ein genialer Zug, daß nach dem „coup fatal“ die letzten Accorde statt des früheren Moll plötzlich in G-dur ertönen – es ist vor- bei! Allerdings aber geht dieser Satz bis ganz hart an die Grenze des künstlerisch Zulässigen. Das letzte Stück, der „Hexensabbath“, überschreitet diese Grenze weit oder vielmehr: es liegt ganz außerhalb derselben. Wie Recht hat Mozart, wenn er einmal seinem Vater schreibt: Musik müsse, auch wenn sie das Schrecklichste aus- drückt, Musik bleiben und dürfe das Ohr nie beleidigen. Was soll man aber sagen, wenn man nahezu eine halbe Stunde lang eine musikalische Scheußlichkeit über die andere zu hören bekommt? Uebrigens aber ist dieser ganze Hexenkessel durch einander brodelnder Töne doch nicht eben ein regelloses Herumwüsten: das parodirte Dies iræ und die fugirte Ronde du Sabbat (wollte Berlioz andeuten, daß Fugen auf den Blocksberg gehören?) sind zwei bestimmt ausgeprägte Themen, die Berlioz dann sinnreich genug zusammen anschlägt – ein bei ihm wohl öfter wiederkehrender Haupt- und Glanzeffect – (ganz ähnlich in der Form, wiewohl ganz verschieden im Inhalt ist das „Fest bei Capulet“ in der Romeo-Symphonie angelegt). Das Orchester übertraf in der Aus- führung dieser überschweren Symphonie sich selbst, die Auffassung war ganz ge- nau die Auffassung, wie Berlioz einst bei persönlicher Leitung Alles selbst anzu- geben pflegte, die Ausführung aber sehr viel besser, als ich die Sache je auch unter Berlioz’ Direction gehört zu haben mich erinnere, weil ihm damals kein gleich vortreffliches Orchester zur Verfügung stand.