Seite - 101 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

101 März 1872 135 140 145 150 155 160 165 170 175 Traditionen der classischen Gesangweise Italiens seien über die Gewalt- und Schreieffecte der Neuzeit und in dem rohen Posaunenspectakel der modernen Orchestrirung verloren gegangen – aber, siehe da, sie leben noch!“ Wir haben uns durch unsere moderne und modernste Oper so sehr daran ge- wöhnt, auf der Bühne declamiren, tremoliren, schreien, bedeutende Stellen, wie Meyerbeer zuweilen vorschreibt, presque parlé und presque pleurant vortragen zu hören, daß es uns ordentlich phänomenal vorkommt, wenn wieder senz’altro gesungen wird. Zum besonderen Verdienste rechne ich der Künstlerin an, daß sie von zwei specifisch italienischen Sing- und Effectmanieren ganz frei ist, die zwar ihre Wirkung kaum je verfehlen, aber im Grunde unkünstlerisch genannt werden müssen. Die eine ist: eine längere Haltenote von irgendeiner Hauptmelodie pianis- simo einzusetzen, sofort aber mächtig und übermächtig anschwellen zu lassen und zuletzt mit der Melodie selbst loszulegen, wie der brüllende Löwe, der da sucht, wen er verschlinge. Die andere Manier besteht darin, die einzelnen Töne irgendei- ner Notengruppe, besonders wenn sie gegen den Schluß einer musikalischen Peri- ode vorkommt, gleichsam einzeln herauszuhämmern. Der sonst ganz vortreffliche Bariton Signor Graziani hat für letztere Art oder Unart gelegentlich etwas zu viel Neigung. So wäre das ausgezeichnet schöne Finalsextett im zweiten Act eine wahr- haft unübertreffliche Leistung gewesen, hätte sich Signor Graziani nicht gegen den Schluß hin mit einer solchen massiven Effectphrase hervorgedrängt, wodurch er das Ensemble unangenehm störte. Abgesehen von dieser Eigenheit, die nun einmal zum pathetischen und hel- denmäßigen Vortrag italienischer Opernmusik zu gehören scheint (auch dem Publico jedesmal imponirt), verdient der vortreffliche, hochgebildete Sänger jedes Lob. Signor Nicolini, der Tenor, ist ein ungemein sympathischer Sänger – diese italischen Tenore sind in ihrer Art, was etwa die Cremoneser Violinen unter den Saiteninstrumenten, – weicher und doch kraftvoller, edler Wohlklang. Nicolini’s Duo mit der Patti war ein wahrer Ohrenschmaus; sehr schön und empfindungs- voll sang er die Sterbescene, nur daß er in den Schlußphrasen eines Sterbenden etwas zu viel gesunde Lebenskraft merken ließ. Seine Stimme soll ehemals stärker und frischer gewesen sein; ich denke aber, daß ein Sänger über seinen Stimmfonds so ziemlich beruhigt sein kann, welcher die berühmte, so leicht mißglückende Explosion „maledetto sii l’istante“ so herausbringt wie Nicolini. Das weltberufene hohe C dabei tönte ganz prachtvoll. – Daß das Publicum den Sänger so glänzend aufnahm, war nur gerecht. Die anderen Rollen – eigentlich mehr oder minder Nebenrollen – wurden von Signor Galvani (Bidebent), einem sehr schätzbaren Baßbariton, Signor Bieletto (Arthur Buklaw), dessen Organ nicht glücklich, der aber augenscheinlich ein soli- der, seiner Aufgabe sorgsam gerecht zu werden strebender Sänger ist, Signor Paltrinieri (Normanno) und Signora Maccagno (Alisa) fleißig und dem gelunge- nen Ganzen angemessen dargestellt. Der Chor tritt bei Donizetti insgemein nur auf, um irgendeine Trivialität herunterzusingen, oder um irgendeinem Solisten in irgendeiner Arie Vorspanndienste zu leisten (Aria con perticchini nennen die Itali- ener solche Stücke). In „Lucia“ ist es leider auch so und zu dem wenigen Lang- weiligen in dieser Oper gehört die erste Hälfte des dritten Actes, wo der Chor und