Seite - 102 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

102 März 1872 180 185 190 195 200 205 210 215 220 der biedere Bidebent sich das Wort gegeben zu haben scheinen, das Publicum um die Wette zu ennuyiren. Bemerkenswerth ist übrigens die für Donizetti ausnahms- weise, auffallend sorgsame, oft sehr glückliche Behandlung der Instrumentirung; der Maestro wußte, daß er für das ausgezeichnete neapolitanische Orchester schreibe. Im Ganzen macht „Lucia“ den Eindruck einer gewissen Noblesse, sie hat Leben, Feuer, stellenweise sogar Geist. Die in der italienischen Oper nun einmal unvermeidlichen Lückenbüßer, die leeren und platten Einschiebsel sind wenigstens nicht unleidlich. Was weiland bei den Dilettanti und Orecchianti gerade das Glück der italienischen Oper machte, die Melodien stets nach demselben Zuschnitt, die schablonenhafte Behandlung der Harmonie, die hüpfenden Cabaletten, die Felicita-Schlüsse – kurz die Dinge, bei welchen sich der schwächste Musiksinn sofort zurechtfinden möchte, – gerade das alles bildet heutzutage ihren schwachen und sterblichen Punkt, ohne doch seine praktische Nützlichkeit ganz verloren zu haben, denn es soll, unverbürgten Nachrichten zufolge, noch hin und her Leute geben, deren Musiksinn schwach ist und die den Worten Mephisto’s in den Paralipomenis im „Faust“ ganz beistim- men: „Musik her! und wär’s ein Dudelsack, wir haben, gleich vielen edlen Ge- sellen, viel Appetit und wenig Geschmack!“ Im Ganzen stehen wir heute der italienischen Oper ganz anders gegenüber als die vorige Generation. Der mit mehr Eifer als Einsicht geführte Streit zwischen italienisch und deutsch hat aufgehört, – wer sich heutzutage noch einfallen ließe, gegen deutsche Musik im Styl der damaligen Dilettanti und Orecchianti Opposi- tion zu machen, gäbe sich, seiner Bildung und seinem Geschmack das aller- schlimmste Zeugniß. Mendelssohns echt künstlerisches Wirken in Leipzig, dem damaligen Centrum deutscher Tonkunst, die großen, regelmäßig wiederkehren- den Musikfeste, das wachsende Verständniß und die zunehmende Vorliebe für Beethoven, ja für J.  S. Bach und Händel, die vortrefflichen kritischen Arbeiten von Männern wie Robert Schumann, O.  Jahn, Hanslik u. a. m. haben die Sache ins rechte Verhältniß setzen und die Musik vor dem Lose bewahren helfen, welchem sie in Italien bereits unrettbar verfallen schien (jetzt ist’s dort auch schon besser), dem Lose, der Gegenstand eines gedankenlosen, ja frivolen Genusses zu werden und die Muse der Tonkunst von der Göttin zur Lorette degradirt zu sehen. Ja, die italienische Oper hat sogar heutzutage einen nicht zu unterschätzenden Werth. Vor lauter dramatischer Wahrheit und Declamation wissen wir heutzutage kaum noch, was eine einfache, klar und überschaulich gebaute Melodie ist, und vor lau- ter hochdramatischem Gesangsvortrag droht uns der bel canto verloren zu gehen. Da ist es denn recht gut und nützlich, wenn wieder einmal eine italienische Oper mitsammt ihren Cabaletten, Felicita-Schlüssen u. s. w. über die Bühne geht. Im k. k. Hofoperntheater haben wir ein entschieden glückliches Debut zu verzeichnen: Frl. Tremel sang die Fides im „Propheten“ und wurde vom Publico ungemein freundlich aufgenommen, welches das unverkennbar bedeutende Talent würdigt und die Befangenheit der Anfängerin in billige Rücksicht zog. Wenn Frl.  Tremel ihre ersten Schritte auf der schwierigen Bahn zur Zeit noch etwas un- sicher thut, so wird man dabei doch ohne weiters anzuerkennen haben, daß von ihrem weiteren Fortschreiten das Beste zu erwarten ist. Vor allem bringt die junge