Seite - 107 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

107 März 1872 115 120 125 130 135 140 145 150 155 rauf möglichst aufmerksam zu machen. Eine geistige Aehnlichkeit wäre, daß Beet- hoven und Rubinstein beide als Pianoforte-Virtuosen begannen, bei beiden aber der bedeutende Componist neben diesem Virtuosenthume bald genug zu Tage trat. Aber bei Beethoven drängte der Componist den Pianisten so in den Hinter- grund, daß bald vom Pianisten kaum noch eine Rede war – bei Rubinstein wuchs der Virtuose höher und höher und dem Componisten über den Kopf. Schwerlich aber wird jemand verkennen dürfen, daß unter den modernen Componisten Rubin stein zu der auserwählten Schaar gehört, der es ehrlicher, hoher und ganzer Ernst um die Sache ist. Gewisse Trios, Sonaten u. s. w. von Rubinstein, seine Ocean- Symphonie u. a. m. sind Stücke, die ihr Genre in höchst respectabler Weise repräsentiren, und wir werden den Componisten, unter den Tonsetzern unserer Zeit immer mit in erster Reihe nennen müssen. Aber eben so wahr ist es, daß man von einer größeren Composition Rubinsteins selten einen ganz reinen und unge- trübten Eindruck mit heimbringt. Jener gute Rath Goethe’s auf Schreibtisch und Zeichenbrett: „hast in böser Stunde du geruht, ist dir die gute doppelt gut“ scheint kaum für jemanden in der Welt weniger vorhanden zu sein als für Rubinstein. Hat diese tête de bronce einmal die erste Seite einer Composition beisammen, so wird fortgeschrieben bis zur letzten, die Phantasie mag willig sein oder nicht. Momente letzterer Art bringen dann Widerborstiges, Gezwungenes, Unerquickliches, das aber mindestens niemals matt und geistlos ist und das weniger unangenehm auf- fallen würde, stünden nicht hart daneben Schönheiten, zuweilen Schönheiten ers- ten Ranges. Auch im „verlorenen Paradies“ wechselt Gutes und Treffliches mit Gleich- gültigem, ja mit öden Momenten. Im Ganzen macht das Werk einen bedenklich ermüdenden Eindruck. Wo liegt der Grund? Wir wollen eine allgemeine Beant- wortung versuchen. Die Musik erhält ihr Leben, ihre Wirkung vor allem durch zwei Elemente: durch tüchtige, bestimmt ausgeprägte Motive, welche zum Sinne und zur Phantasie sprechen, und durch deren tüchtige, consequent-verständige und künstlerisch durchgeistigte Durchführung. Mit letzterem Worte ist nicht etwa bloß eine contrapunktische oder überhaupt sonst schulrichtige Durchfüh- rung gemeint, sondern eine solche, bei der sich der Leib des Tonstückes nach einem deutlicher oder verborgener zur Geltung kommenden Grundmotiv aufbaut, wie analog im Organismus der Pflanze oder des Thieres, oder wie etwa der Gothi- ker seinen gewaltigen Dom nach einer simpeln Grundformel construirt. Fülle an Grundmotiven ist eine Gottesgabe, eine Sache des Talentes – kaum besaß sie je einer in höherem Grade als Mozart und Franz Schubert. Sehen wir uns in unserer modernen Musik um, so finden wir, daß wir erschrecklich viel Geist und erstaun- lich wenig Ideen haben. Es bleibt damit noch immer möglich, größere Werke, ganze Opern (und nicht eben schlechte) zu schreiben, wie z. B. Max Bruchs „Loreley“ beweist. Hinter dem modernen Schimpfworte der „absoluten Melodie“ und der gegen sie von Wagner und seinen Satelliten ausgesprochenen Acht und Aberacht versteckt sich eigentlich nur der uralte Verdruß des äsopischen Fuchses über die saure Traube, die er nicht nehmen mochte, weil sie ihm – zu hoch hing. Wo doch so ein rechter Fonds frischer, neuer Motive zu finden wäre! Das Streben nach möglichsten Eilerfolgen und Abscheu vor der trockenen Arbeit auf der