Seite - 108 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

108 März 1872 160 165 170 175 180 185 190 195 200 hölzernen Schulbank hat dem anderen Element der Musik, einer tüchtigen Durch- führung, beinahe ein Ende gemacht. Wie viel beides aber werth ist, kann mancher alte Herr aus der alten Schule, zum Beispiel Franz Lachner, unsere jungen Genia- len lehren. Der „Geist“ ist heutzutage wie der reiche Onkel im Lustspiel, der alle Schulden des Neffen in runder Summe zahlen muß. Wir nähern uns gewisser- maßen wieder den ersten Anfängen (unserer) Musik um 1600. Aus höheren ästhe- tischen Gründen warfen damals die Florentiner den ganzen Plunder von Melodie und Contrapunktik über Bord und eine Declamation trat an deren Stelle, die der natürlichen Betonung von Wort und Sylbe aufs exacteste gerecht ward. Für uns ist die Wirkung dieses stile recitativo oder rappresentativo (wie man ihn nannte) die einer bleiernen Langweiligkeit. Der geniale Cavalli (um 1630 bis 1670) schuf aus dieser hohlen, pathetischen Declamation unser Recitativ und dessen Formeln für Ausruf, Frage, Antwort, Redeschluß. Wir haben davon nahezu zwei Jahrhunderte gelebt und könnten noch zwei Jahrhunderte und mehr davon leben – auch das ist Rococo geworden: entweder wird das Recitativ ganz verkannt oder vielmehr es geht in der „unendlichen Melodie“ auf, wie bei Wagner, oder wir bekommen Recitative zu hören, wie in Rubinsteins „Paradies“, die an lastender Schwerbeweg- lichkeit gleich neben den Recitativen in Monteverde’s „Orfeo“ stehen könnten und in ihrer Art eine Merkwürdigkeit sind, wennauch keine erfreuliche. In geistlichen Musiken haben wir uns endlich auch gewöhnt, von gewissen solennen Formen der Contrapunktik einen künstlerisch wohlmotivirten Gebrauch gemacht zu sehen. Athmet man nicht ordentlich auf, wenn sich der Schlußchor der zweiten Abthei- lung bei Rubinstein plötzlich fugenmäßig anläßt? Man wird leider bald genug er- nüchtert; denn von der klaren, organischen Durchbildung, wie die alten Meister sie solchen Sätzen zu geben wußten, ist bei einem Modernen keine Rede mehr. In dem ganzen langen und breiten „Paradies“ Rubinsteins dürfte es schwer sein, auch nur ein halb Dutzend Motive von wirklich ausgesprochener Physiognomie heraus- zufinden, und an Stelle einer organischen, gesunden Durchführung treten Decla- mationen, interessante, überraschende Harmoniefolgen, Harfeneffecte, Posaunen- effecte. Wo wir Accente der Leidenschaft, der Empfindung, des Schmerzes, der Freude u. s. w. erwarten, ja fordern, immer nur derselbe trübe, declamatorische Ton. Wenn ja der Poet dem Componisten durch irgendein Mirakel einen solchen Moment entgegenbringt – z. B. das letzte Duo zwischen Adam und Eva – läßt der Componist den Moment ungenützt verstreichen. Jetzt überrascht uns der Tonset- zer durch etwas frappant Schönes und gleich darauf geht es wieder durch traurige Wüstenei, wo keine Blume blüht, keine Palme rauscht. Wer sollte nicht gleich beim ersten Chor der Himmlischen, der so höchst feierlich, so mild und so präch- tig klingt, ein Tonwerk allerersten Ranges erwarten oder was würde vom Werke schließen, wer z. B. den herrlichen, frischen, anmuthigen Chor zu hören bekäme: „wie sich Alles mit Knospen füllt?“ – Wie überraschend ist die geniale Schilderung des Chaos (von jener Haydns so ganz verschieden), wie überraschend auch ist die Illustrirung des „es werde Licht“ durch den gleichsam aufleuchtenden, unver- mutheten Quart-Sext-Accord. Man hat sich so sehr an den berühmten Moment bei Haydn gewöhnt, daß man ordentlich überrascht ist zu sehen, die Sache könne endlich auch noch anders gefaßt werden. Ueberhaupt reicht in der zweiten Ab-