Seite - 109 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

109 März 1872 205 210 215 220 225 230 theilung (bis zum Momente der Schöpfung der Thiere, wo dem Componisten plötzlich die Flügel erlahmen) eine Schönheit der anderen die Hand – doch ist davon die nicht glückliche Malerei der grellen Locomotivpfiffe auszunehmen, wel- che uns die Höhe des Firmamentes versinnlichen sollen. Satan mit seinen Polter- arien ist nicht eben bedeutend gemalt, für den Dämonenkampf würde kaum ein Sterblicher ausreichen – allenfalls Händel oder etwa Beethoven, dessen Sturm stelle im ersten Satze der neunten Symphonie den hier richtigen Ton so ziemlich trifft. Gott sollte gar nicht singen und Tenor schon erst recht nicht. Die Art, wie Men- delssohn in „Paulus“ diese Klippe umschifft hat und die vielleicht der geistvollste Zug des ganzen Werkes ist, war hier nicht anwendbar, wir hören ohnehin mehr als zu viel Chöre. Aber wenn der „Alte der Tage“, den die Maler als majestätischen Greis mit langem Bart, so gut es gehen will, versinnlichen, plötzlich dem Arnold von Melchthal und Raoul Concurrenz zu machen anfängt, so fühlen wir gelinde atheistische Anwandlungen. Herr Walter sang den Tenorpart sehr schön, Herr Rokitansky den Satan tüch- tig und kräftig. Die übrigen Beschäftigten gaben sich alle redliche Mühe, die Chöre gingen frisch und gut. Wie consternirt die theilnehmenden drei Erzengel über den Sündenfall waren, ließ die Ausführung des Terzetts „Herr der Welten, wolle nicht schelten“ deutlich merken. Zu den beklagenswerthen Folgen des Sündenfalles gehört wohl auch, daß im Gesange distonirt wird, dieses oder jenes Instrument verpausirt u. s. w. Möge die Zukunftsmenschheit in ihren Concerten sich durch „Tugendmuth“ und „Glaubensglut“ auch von solchen Peccadillos frei- machen! Der Componist dirigirte selbst und wurde vom Publicum, dessen Liebling er nach Verdienst ist, glänzend empfangen. Und auch ich glaube ihm hier einen Be- weis meiner wahren und festbegründeten Achtung gegeben zu haben, daß ich mit ihm über sein Werk offen und ehrlich gesprochen habe, wie es einem Manne von seiner Bedeutung gegenüber Pflicht und Schuldigkeit ist. Rezensierte Veranstaltung Zweites außerordentliches Konzert der GdM, 26. März 1872, MVgr. Erläuterungen 18 Löwe’s] Carl Loewe (1796–1869), dt. Komponist. ◼ 18f. „Huß“, „Lazarus“, „Die Siebenschlä- fer“] Johann Hus op.  82, Die Auferweckung des Lazarus op.  132, Die sieben Schläfer op.  46. ◼ 22f. Denn Kiesewetter … genannt werden.] Raphael Georg Kiesewetter, Geschichte der euro päisch- abendländischen oder unsrer heutigen Musik […], Leipzig 1834, S.  90. ◼ 28 Oratorientext] Arnold Schlönbach (1817–1866) nach John Milton. ◼ 32f. Er nennt … in drei Acten“.] eigtl. „Oratori- um in drei Theilen“. ◼ 34–37 die erste deutsche Oper … Feuillade.] Die Oper Der erschaffene, gefallene und auffgerichtete Mensch/Adam und Eva von Johann Theile (1646–1724) auf den Text von Christian Richter galt zwar als Eröffnungsstück für die Oper am Gänsemarkt in Hamburg, doch wurde diese mit der Oper Orontes eröffnet; diese wird u. a. auch Theile zugeschrieben. ◼ 46 „Eritis sicut, Deus“] „Eritis sicut Deus scientes bonum et malum.“ (lat. „Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“) Bibel, 1  Mose  3,5. ◼ 48 „eine gebildete Sprache … denkt“.] Freizitat aus: Schiller, Votivtafeln („Dilletant“). ◼ 51–54 Wohl … Hirt] Worte eines Engels im