Seite - 113 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

113 März 1872 115 120 125 130 135 140 145 150 155 Kirche plötzlich Orgelton und festlicher Gesang und der dumpfe Paukendonner rollte dazwischen. „Was ist das?“ fragte ich verwundert einen in den Garten eintre- tenden Spielkameraden. „Weißt du denn nicht?“ sagte er, „heute ist ja Pfingstsonn- tag.“ Wie wunderbar mir da in meinem kindischen Sinne wurde! Mir war, als sei plötzlich der Himmel mit seiner Herrlichkeit der Erde näher gerückt, er „war so klar und feierlich, so ganz als wollt’ er öffnen sich“. Momente solcher Art – an- scheinend unbedeutend und alltäglich – wirken zuweilen fürs ganze Leben nach. Ich glaube, meine Vorliebe für Musik und für Kirchenmusik datirt von jenem Moment an. Aber nicht jede Musik, die wirklich und wahrhaftig in der Kirche zu Gehör gebracht wird, ist deßwegen auch schon Kirchenmusik. Vor einigen Tagen trat ich in die Altlerchenfelder Kirche und hörte eben das Hodie mecum aus Haydns „Sieben Worten“. Das ist gut gewählt und passende Musik. Sonst und anderweitig aber bekommen wir in den Programmen der in diesem Jahre in verschiedenen Kirchen aufzuführenden Musiken manches recht Verwunderliche zu lesen. Die geistlichen Lieder von Beethoven sind Denkmale eines tief religiösen Sinnes und zur häuslichen Erbauung ohne Zweifel vortrefflich; aber in die Kirche gehören sie nicht. Da ist nun aber gar ein „Ave Maria am Chiemsee“ – wie in aller Welt kommt der Chiemsee in die Kirche und ist ein Gesangsstück schon deßwegen „kirchlich“, weil es auf dem Titelblatte als „Ave Maria“ bezeichnet wird?! Ist es wohlgethan, Dinge auf den Kirchenchor zu bringen, welche vielleicht in einem Concert, bei einem geselligen Abend oder auf einer Sängerfahrt von sehr angenehmer Wirkung sein können, aber von dem, was Kirchenmusik sein soll, so weit entfernt sind als ein Jagdfrack von einem Meßgewand? Zu was haben denn italienische, nieder- ländische, deutsche Meister aus den goldenen Zeiten der Kunst nicht zu erschöp- fende Schätze echter und wahrer Kirchenmusik hinterlassen? – einer Musik, wel- che der Würde des Ortes und ihrer Bestimmung angemessen, für die Kirche gleich von Hause aus bestimmt und von classischer Vollendung ist? Freilich ist so eine Motette von Palestrina, Lotti, Orlando Lasso u. s. w. etwas schwerer zu singen als ein modern gehaltenes, liedhaftes Tenor- oder Sopransolo, zu dem Brumm- oder andere Stimmen das harmonische Unterfutter liefern. Auch waren diese alten Meister recht ungalant – Fräulein Amalia, Bertha, Clementine, Doris u. s. w. singe wie ein purer Engel, sie findet da so gar keine, aber gar keine Gelegenheit zu glän- zen. Alles polyphon, alles chormäßig! Kein Offertorium mit obligater Clarinette, nichts, gar nichts dergleichen. Ich dächte aber: man gäbe der Kirche, was der Kir- che, und dem Concertsaale oder Concertsalon, was des Concertsaales oder Con- certsalons ist. In Italien hat die Opernbühne ihre schlimmsten Verdismen und Donizettismen an die Kirche abgegeben: bei uns fängt die musikalische Singver- ein- und die Solofräulein-Litteratur an, den Weg auf den Kirchenchor nicht allein zu finden, sondern ihn beinahe auch schon anderer und würdigerer Musik zu ver- sperren. Wir haben Italien nichts vorzuwerfen – es ist der tiefste Verfall, ja die gänz- liche Entartung kirchlicher Musik. Directe Verbote würden nicht viel helfen, der Wunsch zu „glänzen“ und das Verlangen der Zuhörer, sich in der Kirche musika- lisch zu „amüsiren“, würden doch tausend Wege finden, das Verbot zu umgehen.