Seite - 114 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

114 März 1872 160 165 170 175 180 185 190 195 200 Besser ist es, die Pflege ernster Kirchenmusik mit meinetwegen anfangs ganz bescheidenen Mitteln anzubahnen – „man gewöhne“, sagt Schiller, „das Publicum an das Gute und es wird damit aufhören, das Vortreffliche zu begehren“. Wir haben in Wien zwei Vereine, die wie eine erste Wendung zum Besseren erscheinen, den Verein Palestrina und den Cäcilien-Verein. Letzterer veranstaltete am Palm- sonntage in der Piaristen-Kirche eine musikalische Production – die ich wegen der gleichzeitigen Aufführung von Haydns „Jahreszeiten“ nicht hören konnte – deren Programm aber ein wohlgewähltes war. Das „Ecce quomodo moritur justus“ des Kreiners Jakob Gallus (den man, beträchtlich überschätzend, den „deutschen Palestrina“ genannt hat) ist eine rührend schöne, zum Herzen sprechende Compo- sition; der Name Orlando Lasso’s glänzt auf den höchsten Höhen der Tonkunst. Für moderner Gesinnte war durch Löwe’s kleines, nur von der Orgel begleitetes Oratorium „Lazarus“ gesorgt, ein Werk, das die evangelische Begebenheit mehr ins Gemüthliche, ich möchte sagen, Kleinbürgerliche umdeutet, aber schlicht und rührend klingt; das einige Male wiederholte „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“ (bei dem sich Reminiscenzen-Jäger an eine Stelle aus Glucks „Alceste“ erinnern werden) ist von großer Innigkeit und Zartheit der Emp- findung. Sehr viel großartiger als dieses bescheidene Oratorium sind bei aller hei- teren Gemüthlichkeit Haydns „Jahreszeiten“, die man so oft zu hören bekommt und immer wieder gerne hört. Diesmal wurden sie vom Vereine „Haydn“ unter Herrn Dessoffs Leitung an der Stelle aufgeführt, wo sie einst, zu Anfang dieses Säculums, als Novität das damalige Publicum entzückt hatten, im k. k. Hofburg- theater. Die Aufführung hatte mit allerlei Widerwärtigkeiten zu kämpfen; Frl.  Minnie Hauck, welche die Partie des Hannchens singen sollte, wurde daran durch plötzliches Unwohlsein gehindert; ihre Stelle vertrat eine junge Dame, Fräu- lein C. Meysenheym, Schülerin Dessoffs, welche früher noch nie an die Oeffent- lichkeit getreten war. Wir haben an der liebenswürdigen jungen Sängerin eine sehr angenehme Bekanntschaft gemacht und hoffen ihr hinfort öfter zu begegnen. Es ist wahrlich keine Kleinigkeit, gleich mit einer solchen Partie zu debutiren, und das Publicum nahm die Kunstnovize, wie billig, überaus freundlich auf. Eine schöne, jugendfrische, wohl ausgebildete Sopranstimme und im Vortrage eine ge- wisse liebenswürdige Treuherzigkeit, die noch ganz bei der Sache ist und ihr Heil nicht in Minauderien und Coqueterien sucht, nahmen sehr für sie ein. Ganz aller- liebst und wirklich so reizend, wie ich noch nie gehört zu haben mich erinnere, trug Frl. Meysenheym die Erzählung vom „Mädchen, das auf Ehre hielt“, vor – sie malte mit anmuthiger Schalkhaftigkeit in leichten Andeutungen jede Situation lebendig aus, ohne den Ton der Erzählung zu verlieren oder ins Opernhafte zu verfallen. Dagegen müssen wir leider auch notiren, daß das Duett „Ihr Schönen aus der Stadt“ gründlich mißrieth, ein Mißerfolg, von dem übrigens auch Herrn Adams sein Pflichttheil gebührt. Den Simon sang Herr Dr. Franz Krückl, Mitglied des Augsburger Stadttheaters. Seine Stimme ist keiner von den mächtigen Bässen, aber von angenehmem Klang, er selbst ein sehr verständiger, gebildeter und gewissen- hafter Sänger, der seine Aufgabe mit großer Pietät löste, auch vom Publicum leb- haft und nach Verdienst ausgezeichnet wurde.