Seite - 115 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

115 März 1872 205 210 215 220 225 230 235 240 245 An demselben Tage hatten wir zur Mittagsstunde im Concerte der Philharmoni- ker Beethovens Pastoralsymphonie gehört. Haydns lebensfrische Composition und die hohe Tondichtung seines großen Schülers mahnten so recht wie ein musi- kalischer Gruß an den Frühling, an das wiedererwachende Leben der Natur. Man hat bei diesen zwei Werken und bei Haydns „Schöpfung“ bisher noch kaum je eine Beziehung zu dem übrigen geistigen Leben der Zeit hervorgehoben, welche mir merkwürdig scheint. Durch das ganze vorige Jahrhundert macht sich in der deut- schen Litteratur – also dem Spiegelbilde des geistigen Lebens der Zeit – ein Streben und Drängen nach der Natur, der urfrischen, ewigen Natur fühlbar, ein Streben heraus aus den engen oder verkünstelten und verschnörkelten Verhältnissen des damaligen Lebens. Man suchte sich entweder in der „Idylle“ in geträumte arkadi- sche Schäfer- und Unschuldswelten zu flüchten, das heißt, man suchte die Natur auf dem Wege der vollkommensten Unnatur; oder aber (und das war das Bessere) man wendete den Erscheinungen des Naturlebens die liebevollste Aufmerksamkeit zu – nicht bloß den großen und auffallendsten, sondern auch den kleinsten, wie Goethe seinen Werther schreiben läßt, wie er „im hohen Grase am fallenden Bache liegt und ihm, näher an der Erde, tausend mannigfaltige Gräschen merkwürdig werden, er das Wimmeln der kleinen Welt zwischen den Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an seinem Her- zen fühlt, und fühlt die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält“. Schon in der Litteraturperiode vor Goethe waren ganze umfangreiche Ge- dichte entstanden, welche liebevolle Naturbetrachtung mit didaktischen und mo- ralisirenden Nutzanwendungen verknüpften – ich erinnere an Brockes’ „irdisches Vergnügen in Gott“, an Hallers „Alpen“. Kleist in seinem „Frühling“ begnügte sich schon, ohne theologisirendes und moralisirendes Beiwerk (wovon indessen doch zuweilen mindestens noch ein Nachklang hörbar wird) die Erscheinungen des Lenzes poetisch zu registriren. Den eigentlichen Ton für die classische Zeit gab aber auf diesem Gebiete J.  J. Rousseau (also ein französischer Autor) an, den Jean Paul „den Magus der Jünglin- ge“ nennt. An die Dichtungen Goethe’s aus der ersten Periode wird einfach bloß zu erinnern sein. Hat das sich in die Natur Versenken in der ersten Hälfte des „Werther“ noch etwas Dithyrambisches, so hauchen viele der kleineren Gedichte jener Zeit einen wahrhaft herzstärkenden Duft aus – es wird uns, als wandelten wir durch frühlingsgrüne Wälder – später traten bei dem großen Dichter freilich an Stelle der natürlichen Säulen der Buchen- und Eichenstämme Säulen aus grie- chischem Marmor, kunstvoll nach antiker Art gemeißelt. Die prachtvollen Natur- bilder, welche Jean Paul seinen Romanen einfügt (Hesperus, Siebenkäs, Titan, Flegeljahre) gehören zu dem Hinreißendsten, was die deutsche Litteratur besitzt – sie haben schon wieder einen fühlbaren religiösen Beiklang, aber ganz anders als z. B. weiland bei Brockes. Matthison mit seinem buntscheckigen, ungeschickt durch einander gehängten Bildertrödel stellt von dem allen gleichsam die Carica- tur vor. Denn es muß eben Nachtigallen und Sperlinge geben. Was nun in der deutschen Litteratur so entschieden zur Geltung kam, ja ihr, ehe die antikisirenden Studien Schillers und Goethe’s eine andere poetische