Seite - 124 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

124 April 1872 55 60 65 70 75 80 85 90 95 (das alles war Hermannus), würde sich vermuthlich darüber gewundert haben, was die geschickte Hand des Herrn Krenn aus seiner uralterthümlichen Melodie gemacht hat. Die Wirkung ist eine sehr gute (hätte nur der Solotenor ein sympa- thischeres Organ gehabt!) – von dem Original, das einer Epoche angehört, wo sich aus den embryonischen Mißgestalten des sogenannten „Discantirens“ die ordent- liche und geregelte Harmonie erst mühsam loszuringen begann, darf man sich nach der mit allen Mitteln der jetzigen, voll ausgebildeten Kunst ausgestatteten Bearbeitung allerdings keine Vorstellung machen. Liszts „Ave Maria“, ein vierstimmiger Chor mit Harmoniumbegleitung (oder Orgel), aus den eben erschienenen neun Kirchenchorgesängen, ist zur glücklichen und weihevollen Stunde componirt, von dem Ausdrucke wahrer Andacht belebt, einfach, edel, in einem der Kirche ganz angemessenen Styl und von sehr bedeutender Klang- schönheit. Die Harmonien zum Schlusse sind nicht à la Palestrina, aber nichts weniger als unschön oder unkirchlich, übrigens für die Sänger keine leichte Auf- gabe. Mendelssohns Hymne für Alt mit Chor „Laß, o Herr, mich Gnade finden“ (alle drei Sätze) wurde im Solo von Frl. Rosa Girzick mit edlem Ausdruck und inniger Empfindung vorgetragen. Vergleicht man diese Hymne mit Anerio’s Adoramus, so wird man die Wahr- nehmung machen, daß es am Ende auch hier der Geist ist, welcher lebendig macht, und die äußere Form etwas Zufälliges bleibt und dann immer gut und richtig ist, wenn sie jenem Geiste zum angemessenen Ausdrucke dient, sie mag im Uebrigen aussehen, wie sie will. Der alte italienische, katholische und der neue deutsche, protestantische Meister (Mendelssohn gehörte bekanntlich trotz seiner israeliti- schen Abkunft der protestantischen Confession an) beten beide im Geiste und der Wahrheit – aber dort ist die Form die alterthümliche, hier die moderne – die Wir- kung hier wie dort eine erhebende. Aber auch die weitere Beobachtung ist recht lehrreich, daß der Meister ganz objectiv, rituell, gottesdienstlich ist – während der neuere Tonsetzer, auch wenn er für die Kirche componirt, den dramatischen Zug nicht verläugnen kann, der nun einmal seit 1600 aller Musik im Blute steckt. Ganz dramatisch ist bei Mendelssohn nicht nur der Ausdruck bangen und demüthigen Flehens und später der Ausdruck frohen Dankes, sondern auch die Anlage des Ganzen mit der effectvollen Steigerung. Diese Composition soll nach der Absicht ihres Schöpfers mit der Orgel begleitet werden – warum wählte man statt des ohnehin dastehenden Harmoniums das Pianoforte? Vor der Hymne erfreute uns der k. k. Concertmeister Herr J.  Hellmesberger und Frl. Gabriele Joel durch den ausgezeichneten Vortrag der Mozart’schen A-dur-Sonate für Violine und Klavier. Es ist und bleibt bei Mozart doch immer, als wehe uns ein Hauch unsterblicher Jugend an. Dieses Werk, voll Mozart’scher Götterleichtigkeit im anmuthigen Wechselspiel beider Instrumente, ist auch darum sehr interessant, weil es vielfach wie eine Ankündigung der ersten Geigensonaten Beethovens (der sogenannten „Salieri’schen“ klingt), allerdings malt Beethoven in tieferen und dunkleren Farben und setzt mehr technische Mittel in Bewegung. Der „weltliche“ Theil des Concer- tes war erfreulicher Weise dem künstlerisch veredelten Volksliede gewidmet. Neben einigen von Weinwurm und von Johannes Brahms sehr schön und in- teressant harmonisirten Chören über schottische und deutsche Volksweisen (wobei